Es gibt eine Marktlücke für gelassene Digitalmedien
Live-Ticker zur Krim-Krise, zum Steuerverfahren gegen Uli H. und zu Flugzeugabstürzen – es gibt derzeit kaum ein deutsches Mainstream-Digitalmedium, in dessen Angebot nicht mehrere Echtzeitformate parallel laufen. Angesichts dieses massiven Einsatzes kontinuierlich aktualisierter Nachrichten- und Nichtnachrichtenfeeds erscheint der Erfolg des niederländischen Digitalmagazins De Correspondent erst mal überraschend.
Das Journalismus-Angebot ohne großen Verlag im Hintergrund nennt sich „eine tägliche Medizin gegen den Wahnsinn des Tages“, veröffentlicht keine Live-Formate, keine Nachrichten, sondern höchstens ein halbes Dutzend langer Analyse, Reportagen und Kolumnen am Tag. Sie erklären die Welt, mittelbar aktuell, immer umfassend: Welchen Einfluss hat Kommunalpolitik überhaupt? Warum demonstriert die Mittelschicht in Venezuela? Wie lebt ein Schwuler in Uganda? Mit solchen Geschichten hat die Site 30.000 zahlende Abonnenten (60 Euro das Jahr) gewonnen.
Warum zahlen onlineaffine Leser für ein derart langsames Digitalmagazin?
Ich habe da eine eigene Theorie: Den Share-Quoten und regen Online-Diskussionen bei De Correspondent nach zu urteilen nutzen viele onlineaffine Menschen das Angebot. Leser wie ich, die den stetigen Strom von Unterhaltung, breaking und nicht ganz so breaking news und immer neuen Inhaltsschnipseln ständig in Sammelbecken wie Twitter verfolgen. Diese spitze Zielgruppe – glaube ich – zahlt für Digitalmedien Geld, wenn sie etwas anderes bieten als das Nachrichtenrauschen, das jeder von Twitter und all den Aggregatoren kennt, die mit einer Flut an Schnipseln Publikum binden.
Ich habe da noch einen weiteren Beleg als mein eignes Nutzungsverhalten. Bei meiner Umfrage für eine Blattkritik bei Spiegel Online auf Twitter haben erstaunlich viele Menschen auf die Frage „Was fehlt dir?“ geantwortet: Analyse, Ruhe, Tiefe, lange Texte. Hier einige O-Töne von Antwortenden:
„Tiefe, Ausgeruhtheit, Glaubwürdigkeit“ (w, 25-39)
„Besonnene, kluge, leise Artikel.“ (w, 25-39)
„Hintergründe, Zusammenhänge, Nischenthemen — nicht nur aber auch. In spürbarem Umfang“ (m, 40-50)
„längere Hintergrundstories zum Wochenende, long reads“ (m, 25-39)
„Journalistische Qualität. In die Tiefe, wirklich neues.“ (m, 25-39)
„Ich vermisse längere Stücke, z.B. Reportagen o.Ä. – teilweise gibts die bestimmt, aber man übersieht sie leicht, weil ungünstig platziert“ (w, 25-39)
„Interaktive Infografiken, gute Longreads“ (m, 25-39)
„Spiegel-ähnliche Artikel was den Umfang angeht wären natürlich manchmal schön,“ (m, 25-39)
Das ist natürlich nicht repräsentativ. Aber: Das hier sind Antworten von Twitter-Nutzern, von Menschen, die in Echtzeit debattieren, Lese-Empfehlungen, Nachrichten und Inhalte-Schnipsel aufsaugen. Die wünschen sich von einem Online-Medium Ruhe, Gelassenheit, tief gehende lange Erklärtexte. Formate, wie sie De Correspondent bietet.
Wirklich relevante Stücke, liebevoll erzählt
Ich bin mit sicher, dass es hier ein nicht ausreichend abgedecktes Bedürfnis gibt. Was De Correspondent macht, gilt in Deutschland vielen Medienmachern als originärer Weltzugang der Printmedien. Digital ist schnell, Print ist langsamer und analytischer. Dabei ist ein Teil des Publikums schon weiter: Wer für De Correspondent zahlt, will die Analysen nicht auf Papier sondern in einem ausgeruhten, anregenden und schönen Digitalmedium. Dafür zahlen diese Kunden auch. Für eine Handvoll ausgewählter, wirklich relevanter Texte am Tag, ohne den Batzen an irrelevantem Kram vom Vortag oder der Vorstunde, mit dem Tageszeitungen und Digitalmedien gefüllt sind. Die Kunst von De Correspondent (ähnlich wie die der FT) ist es eben auch, den Lesern das Gefühl zu geben: Das sind die wirklich relevanten und richtig liebevoll erzählten Geschichten des Tages. Punkt.
Ich bin mir absolut sicher: Ein paar Zehntausend dieser Leser gibt es in Deutschland. Von jedem von ihnen 60 Euro im Jahr und jemand hat ein kleines, sogar ohne Online-Werbung funktionierendes Geschäftsmodell.
Was denkt ihr? Bin gespannt auf Meinungen in den Kommentaren.