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cut Kundenmagazin

cut Kundenmagazin

cut (Kundenmagazin des Papierherstellers G. Schneider & Söhne. GmbH & Co. KG, 14.000 Druckauflage halbjährlich, persönliche Präsentation und Übergabe durch den Außendienst in Werbeagenturen, Druckereien. Konzeption, Textchef von 2004 bis 2005)

TRÄUMEN IN SCHWARZWEIß

UM HALB ACHT FÄHRT MATTHIAS BRELL MIT DER STRASSENBAHN INS BÜRO, ARBEITET SEINE SIEBEN BIS ACHT STUNDEN, VERMITTELT EIN PAAR HUNDERT TELEFONGESPRÄCHE, GEHT DANN MANCHMAL INS KINO ODER TRAINIERT FÜR SCHACHMEISTERSCHAFTEN. DAS GANZ NORMALE LEBEN EINES BLINDEN.

Matthias Brell weiß, wie hässlich sein Büro ist. Doch er hat es nie gesehen.

Nicht die Taubenspieße auf jeder Fensterbank, nicht die schmutzig rote Backsteinfassade des Essener Versorgungsamts, in der selbst die 69 Fenster abweisend-massiv wirken. Hinter einem davon, gleich links neben dem Eingang, vermittelt der 39-jährige Verwaltungsangestellte Brell Tag für Tag ein paar Hundert Telefongespräche an die 170 Mitarbeiter im Amt, über das er lachend sagt: »Das Gebäude ist nicht besonders schön, das weiß ich.« Das haben ihm Kollegen gesagt. Denn Brell ist von Geburt an blind. Seine Umwelt lässt er sich manchmal beschreiben, doch meistens hört er sie. Oder er tastet nach ihr. Es ist später Nachmittag, Brell telefoniert, gleitet dabei mit einem Finger über die etwas klobige Computertastatur vor ihm. Er sucht eine Telefonnummer, fährt dazu über einen breiten, metallisch schimmernden Streifen unterhalb der Leertaste. Das ist die so genannte Braillezeile. Auf ihr ordnet elektrische Spannung Kristalle zu den Schriftzeichen der Blindenschrift an, immer die 80 Zeichen, bei denen der Cursor auf dem Computerschirm gerade steht. Brells Hände sind frei, statt eines Telefonhörers am Ohr hat er ein Headset auf dem Kopf. Mit der linken Hand nimmt er die Anrufe entgegen und verbindet weiter. Mit der rechten Hand liest er die Nummern. Geordnet hat er sie in Textdokumenten, jedes listet die zuständigen Beamten nach Sachgebieten auf. Erziehungsgeld? Hinterbliebenenrente? Schwerbehinderung? Brell findet die Ansprechpartner so schnell, dass man am Telefon nicht merkt, dass hier ein Blinder mit einem Computer arbeitet, der für Sehende gebaut wurde. Eine Maus kann Brell nicht benutzen, die Programme startet und bedient er über Tastenkombinationen. Gelernt hat Brell, in dessen Familie es sonst keine Blinden gibt, die Brailleschrift in der einzigen Blindenschule Nordrhein-Westfalens. Eine lange Anfahrt war es dorthin, fürs Abitur musste Brell später sogar nach Marburg. Nur sein Kindergarten, ein ganz normaler, war in der Nachbarschaft.

An der fahlgelben Wand neben Brells Computer klebt eine ausgedruckte Telefonliste. Stand: 2001. »Das war eine Hilfe für meine Vertretung«, sagt Brell. Der große Debeka-Wandkalender gegenüber – auch von 2001 – ebenso. »Den sollte ich wirklich mal abhängen.« Wer genau hinhört, kann in dem Satz etwas von Brells Einstellung zum Leben hören. Er ist so gelassen wie möglich, bei den wirklich wichtigen Dingen aber immer hochkonzentriert. Er weiß genau, wo was in seinem Büro hängt, steht, liegt. Aber für Dinge, die er nicht unbedingt braucht, verschwendet er keine Energie. Er hat seine eigenen Werkzeuge, die ihn nicht im Stich lassen: für die Zeit eine sprechende Uhr, für Notizen seinen Kopf. Andere Blinde sprechen Notizen in Diktiergeräte, Brell merkt sich, was er unterwegs nicht in den Computer tippen kann. Für die Zeitplanung hat er einen Taschenkalender im A6-Format, jede Woche eine Seite mit allen Informationen über Daten, Ferien, Wochen- und Feiertage in Brailleschrift. Für Sehende sind es leere Seiten voller Löcher. Ganz ähnlich wirkt auf Brell der alte Wandkalender in seinem Büro: eine Fläche bar jeder Information. Die Tür geht auf, ein Kollege ruft zu Brell herein. »Tschö, machste noch länger?« Ja, ein wenig. Denn nach Feierabend surft Brell im Web, beantwortet seine elektronische Post – genießt etwas Privatleben. In der Arbeit ist das einfacher, denn Brells Computer daheim ist nicht so gut ausgestattet. Schließlich kostet eine Tastatur mit Braillezeile allein 5.000 bis 10.000 Euro. Regelmäßig liest Brell die E-Mails des Infodienstes »indirekter Freistoß«, einer täglichen »Presseschau für den kritischen Fußballfreund«. Die Spiele seines Vereins muss er im Lokalradio hören, denn Rot-Weiß Essen spielt derzeit nur in der Regionalliga. Fußball, Filme, Fernsehen – Brell plant das sehr bewusst. In der Badewanne hört er Zeitschriften – »ein Genuss«. Voriges Jahr war er sogar zweimal im Kino: »Erbsen auf halb sechs« und »Die Blindgänger« liefen in speziellen Vorstellungen mit akustischen Szenenbeschreibungen. Am Wochenende radelt er – der Fahrradclub organisiert Tandemtouren mit Sehenden. Was ist Natur für jemanden, der die Farbe grün nicht kennt? »Kein Gedrängel, kein Lärm.« Also wenn alles gedämpft wirkt, was Brell im Alltag so dringend braucht: Berührungen und Klang. In seinen Träumen spielen sie auch eine große Rolle, glaubt Brell: »Ich erinnere mich morgens zwar nie, aber ich träume wohl in Schwarzweiß und eher in Geräuschen.«

Viele Kleinigkeiten unterscheiden Brells Alltag von dem eines Sehenden. Er fährt mit der Straßenbahn zur Arbeit, läuft das letzte Stück zu Fuß. Schwierigkeiten machen im unterwegs drei Dinge: Schnee (der dämpft Geräusche, an denen Brell sich orientiert), abgesenkte Bordsteine (die kann er mit dem Blindenstock kaum ertasten) und Gemüseauslagen (stehen immer anders auf dem Bürgersteig). Brell kauft selbst ein, meist in Läden, wo er bedient wird: beim Bäcker, beim Metzger, manchmal fragt er aber auch im Supermarkt nach etwas Unterstützung.  Einmal in der Woche fährt Brell nach der Arbeit mit der Straßenbahn zum Blindenschach. Dort hat jeder Spieler ein eigenes Brett. Die Züge sagt man sich an, jeder aktualisiert sie auf seinem Spielfeld. Die schwarzen Felder sind leicht erhöht, die schwarzen Figuren haben kleine Nägel auf ihrer Spitze – so kann man die Farben fühlen.  Drei, vier Stunden spielt Brell, dann bringt ihn der Sozialdienst im Bus nach Hause. Brell würde es auch mit der Bahn schaffen. Doch der Fahrdienst ist ihm um diese Zeit lieber. Denn an der Bahnhaltestelle »ist man abends manchmal schon sehr allein«.