Das Reichweiten-Dogma ist dämlich
Twitter versagt, weil der Dienst nur 304 Millionen Menschen als Kernnutzer bindet. So interpretiert alle Welt die neuste Quartalsbilanz. Diese Lesart überzeugt mich nicht. Das ihr zugrunde liegende Reichweiten-Dogma beruht in den meisten Fällen auf einer falschen Hoffnung und ist insgesamt eher schlecht für Netz, Gesellschaft und Geschäft.
Falsch ist das Reichweiten-Dogma, weil nur wenige Medien (ja, ich zähle Twitter dazu im weiteren Sinne) relevant für alle oder auch nur die meisten Menschen sein können. Meine Hypothese: Es gibt in jedem Sprachraum nur ein soziales Netzwerk, nur eine Videoplattform, nur ein Highbrow- und ein Lowbrow-General-Interest-Medium mit täglichem Kontakt zu mehr als einem Drittel der Onliner.
Schlecht ist das Reichweiten-Dogma für die Ursprungszielgruppe jedes Medienangebots, wenn die Fortentwicklung des Kernprodukts unter einer Expansion in die weitest mögliche Breite leidet.
Schlecht ist das Reichweiten-Dogma für alle, wenn die Entwicklung von Angeboten und Geschäftsmodellen auf Basis des Reichweiten-Dogmas die Vielfalt im Markt insgesamt mindert. Alles für alle von allen ist meistens alles so einigermaßen. Etwas Besonderes für einige funktioniert auch mit Werbe-Geschäftsmodell (siehe Vice).
Schlecht ist das Reichweiten-Dogma als Grundlage von Geschäftsmodellen, weil es den Blick für Experimente mit der Kernzielgruppe verstellt. Wenn das Ziel größtmögliche Reichweite zur Werbevermarktung ist, erscheinen neue Ideen fürs Geldverdienen mit den Ursprungsnutzern nicht verfolgenswert (skaliert nicht!). Kann sein, dass es derzeit keine Tech-Blase gibt.
Es gibt aber meiner Meinung ganz sicher eine Blase bei Geschäftsmodellen nach dem Reichweiten-Dogma.
Anders kann ich mir nicht erklären, warum zum Beispiel 2014 die Idee aufkam, dass ein hervorragendes Produktivitäts-Werkzeug wie Wunderlist zum „home of the world’s lists“ und einer Medienplattform wie Buzzfeed werden sollte.
Bei Twitter sieht das etwas anders aus (wie, habe ich hier aufgeschrieben).