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Die subversive Bewegung

Prozess vs. Plot im Computerspiel

Vortrag, gehalten am 18.1.2003 beim Stuttgarter Filmwinter

Einleitung

Wenn ein Filmkritiker von einem Film schreibt, er gleiche einem Computerspiel, ist das meistens eine Beleidigung. Ein Codewort für einen unmotiviert  davonlaufenden Plot, flache Charaktere und schnelle Action. Wenn ein Spielekritiker ein Spiel mit Kinofilmen vergleicht, ist das immer ein Kompliment. Ein Kompliment für visuelle Reize und einen sich langsam entfaltenden Plot, der mit viel Aufwand erzählt wird.

These: Das Spiel endet, wo die Erzählung beginnt – und umgekehrt

Beides sind Missverständnisse. Ein Spiel ist kein schlecht inszenierter Film und auch kein schlecht erzähltes Buch. Ebenso wenig wie ein Flugzeug ein schlecht fahrendes Auto ist, ebenso wenig wie ein Film ein schlecht geschriebenes Gedicht ist.
Manchmal erzählen Spiele natürlich. Zum Beispiel von der Entwicklung eines Charakters in Rollenspielen. [Illustration 1, Statusscreen Morrowind] Doch solche Erzählungen entstehen en passant während des Spielens. Solche Erzählungen sind eine der möglichen Erscheinungsformen der Ergebnisse des Spielens. Sie sind keine Voraussetzung.
Oder aber es wird erzählt, während das Spiel pausiert. Dann arbeiten die Designer in so genannten Cutscenes [Illustration 2, Max Payne] durchaus nach filmischen Regeln. Selbstverständlich, denn Cutscenes sind Filme und keine Spiele. Sie belohnen die Spieler für erfolgreiches Spielen. Das Spiel endet, wenn die Erzählung beginnt. Beides zusammen ergibt Unterhaltung, die bestenfalls mehr ist als ein gutes Spiel und eine gute Erzählung.
Schlussfolgerung: Worüber sprechen, wenn von Spielen die Rede ist?
Computerspiele sind also etwas grundsätzlich anderes als Kino, Literatur oder Theater. Das heißt nicht, dass für und an diesen Medien entwickelte Theorien und Methoden nicht nützlich sind. Nur wird man so nicht die spezifischen subversiven Strategien von Spielen entdecken können und schon gar nicht den ganz besonderen Bedarf an Subversion ihrer eigenen Ideologien.
Deshalb wird hier zuerst die Form des Computerspiels betrachtet, um dann ihre ganz eigenen Möglichkeiten zur und ihren besonderen Bedarf an Subversion zu analysieren.
Als Analogie für die Form von Medieninhalten sind Linien im Dauereinsatz. [Illustration 3] Die meisten Romane, Kurzgeschichten und Filme lassen sich zwar nicht als Gerade, zumindest aber als eine begrenzte Zahl an Linien beschreiben. Manchmal sind sie geloopt wie bei Proust, manchmal unterbrochen und auf anderen Ebenen fortgesetzt wie selbst in Genreliteratur – doch meistens reichen eben ein paar Linien in zwei Dimensionen zur Beschreibung.
Lange Zeit war der Modebegriff Interaktivität  mit einem nur unwesentlich anderen Denkbild belegt: parallele Gerade, die sich in immer mehr parallele Äste verzweigen. [Illustration 4] Das hat wenig mit Wechselbeziehungen, mit Output, der zu neuem Input wird, zu tun.

Auch wenn das Spielen eine Abfolge von Bilder und Ereignissen generiert, darf ein Spiel nicht als linear angesehen werden. Ergiebiger ist eine andere Perspektive: Ein Spiel besteht aus zwei Räumen, die einander überlagern und an bestimmten Stellen verbunden sind: Bildraum und Ereignisraum.
Definition Bildraum

Es gab eine Zeit, da waren Spiele noch nicht dreidimensional. Ihr Material war zwar nicht mehr Text wie in den Textabenteuern. [Illustration 5, Zork] der siebziger und frühen achtziger Jahre, aber ähnlich unbefriedigend eine begrenzte Zahl von Bildern. Diese Grafikadventure [Illustration 6, Monkey Island 2] boten eine diskrete Menge statischer Bilder. Ihre Perspektive war fix, ihre Komposition zum größten Teil auch. Allein die Abfolge der Bilder veränderte sich durch das Spiel im Spiel. Das sind letzlich historische Sonderformen, die man durchaus ähnlich analysieren kann wie heutige Bildräume. Bei denen dominiert heute eine andere Form der Darstellung – eine, die allein der Computer liefern kann, da sie berechnet werden müssen.

[Illustration 7, Ultima IX, sezierte Welt] Spiele wie „Ultima IX“ darf man sich nicht als eine begrenzte Sammlung von Bildern vorstellen, die der Spieler in einer beliebigen Folge anordnen kann. Dreidimensionale Spiele wie „Morrowind“, „Starfox Adventures“ oder „Jedi Outcast“ bestehen aus einem Raum, vielen Elementen, zum Beispiel Oberflächenstrukturen, und Gesetzen, zum Beispiel, dass bestimmte Objekte wie Baumzweige oder fallendes Wasser durchlässig sind, andere wie der Boden wiederum nicht. Die Bilder werden erst durch die Bewegung des Spielers generiert. Abhängig von seiner Position, Bewegungsgeschwindigkeit, Ausrichtung und Blickrichtung berechnet das Programm gemäß der bestehenden Regeln aus den vorhandenen Elementen Bilder. Hier hilft als Sinnbild das Kaleidoskop mehr als das Kino: Ein Spiel ist wie das Kaleidoskop nicht die Summe seiner Bilder, sondern der Mechanismus zu deren Schaffung.

Definition Ereignisraum

Der Bildraum in Spielen ist mehr als eine Ansammlung dreidimensionaler Objekte, die mit Texturen überzogen sind. Das wäre eine Virtual-Reality-Umgebung, oder – wenn man eine bestimmte Bewegung wählt und die Bilder entsprechend berechnet – ein Film. Ein wesentlicher Bestandteil des Bildraums sind Regeln oder Gesetze, die erst ein Spiel ermöglichen. Aus diesen Regeln besteht der Ereignisraum. Hier wird das Sinnbild schwierig: Der Ereignisraum hat dieselbe Position wie der Bildraum, an vielen Punkten sind beide verbunden. Und doch muss man sie als getrennte Elemente betrachten.

in leicht nachvollziehbares Beispiel ist die Welt von „Die Sims” [Illustration 8, Sims] : Hier sind nicht die Spielcharaktere intelligent, sondern ihr Umfeld. Alle im Spiel möglichen Objekte haben bestimmte Eigenschaften, die zusammengenommen das Befinden und Leben der Sims bestimmen. Nicht die Spielfigur erkennt das Unterhaltungspotential eines Balles, sondern dieser selbst kommuniziert es. Viele Gegenstände schreien durcheinander ihre Variablen in die Welt von „Die Sims” hinaus. Im Zusammenspiel mit den in Variablen kodierten Bedürfnissen der Spielcharaktere entsteht so intelligentes Verhalten. Der Ereignisraum schränkt die potenziellen Verhaltensweisen ein. Er gibt so die Randmarken [Illustration 9] des Weges vor, den der Spieler durch den Ereignisraum einschlägt. Ein Computerspiel oszilliert zwischen Freiheit und Unfreiheit. Jedes Spiel definiert solche Regeln, die erwünschtes Verhalten determinieren. Beim Tischtennis sollte der Ball das gegenerische Spielfeld einmal berühren, damit man nicht einen Punkt, dann vielleicht gar den Satz und letzten Endes das Spiel verliert. Bei „Die Sims” sollten die Sims Spaß haben, was unter anderem mit Bällen zu erreichen ist. Aber auch einer Menge anderer Gegenstände.

Die Richtung dieser Bewegung ist durch das Ziel des Spiels bestimmt. Jedes Spiel definiert, was als Sieg und was als Niederlage gilt. Beim Tischtennis 2, 3, 4 oder mehr Gewinnsätze. Bei „Civilization” eine funktionierende Zivilisation. Die übergeordneten Ziele können narrativ formuliert werden. Die Prinzessin muss gerettet, das Imperium besiegt, die Identität des Spielcharakters ergründet werden. Ähnlich wird in den meisten Spielen auch gearbeitet, um die Spieler zu motivieren.

Doch diese narrativen Elemente sind lediglich eine Unterfütterung des Spiels, erzählt im strengen Sinn wird ausschließlich, wenn das Spiel pausiert. [Illustration 9, Black & White] Während die Filmsequenzen die Geschichte vorantreiben, schaut der Spieler nur zu, er kann nichts tun, außer vielleicht die Sequenz zu überspringen. Heute werden Filmsequenzen viel sparsamer und subtiler eingesetzt. Im Spiel „Black & White” zum Beispiel. [Illustration 10, Black & White] Wenn aber nun irgendwo in der Spielwelt etwas Wichtiges geschieht, schiebt sich das Bild ein wenig zusammen, sodass die von einigen Filmformaten bekannten schwarzen Streifen am oberen und unteren Bildschirmrand entstehen. Die gedachte Kamera schwenkt dann hin zu jenem Ort, an dem etwas geschieht. Die zitierte Schwärze am Rand hilft, die Bilder zu verstehen. Hier ist im Gegensatz zum Rest des Spiels eine feste Perspektive und Bildfolge vorgegeben.
Im Spiel aber bewegt sich der Spieler frei in einem Ereignisraum, dessen Grenzen die Regeln des Codes und die dem Spieler vorgegebenen Ziele definieren. Das Ergebnis dieser Bewegung erscheint am Ende vielleicht als Erzählung, zum Beispiel, wenn in Rollenspielen der Spielcharakter mit der Zeit durch die Entscheidungen des Spielers auf einen bestimmten Karriere- und Lebenspfad gedrängt wird.

Natürlich erfasst diese Beschreibung nicht alle Spielgenres und nicht alle historischen Epochen. Der Ereignisraum zwischen den Grenzen konnte erst mit der wachsenden Leistungsfähigkeit der Rechner größer, das Spiel zunehmend als Prozess gestaltet werden. Noch in den Adventure-Spielen der frühen neunziger Jahre diente der Input der Spieler meist allein dazu, weitere Stufen der detaillierten, dramaturgisch ausgefeilten Handlung abzurufen. Spieler lösten Aufgaben und wurden mit narrativen Häppchen belohnt. Doch auch diese Spiele waren in gewissem Sinne ein Prozess: Auch hier bewegte sich der Spieler nach dem Trial-and-Error-Prinzip durch die Spielwelt, und entdeckte, welche Gegenstände [Illustration 11, Inventar Monkey Island] wie kombinierbar waren.

Warum auch stark erzählende Genres – wie Rollenspiele – sehr gut als Ereignisraum beschrieben werden können, verdeutlich vielleicht ein jahrzehntealtes Phänomen: Tolkien.

Bereits Ende der sechziger Jahre entstand die Idee, Tolkiens virtuelle Welt sei im Spiel intensiver da interaktiver zu erfahren als in der Literatur. Die hatte Dave Arneson 1969. Sein Hobby waren strategische und taktische Kriegsspiele. In solchen werden Schlachten nach dicken Regelbüchern mit miniaturisierten Einheiten auf topografischen Karten [Illustration 12, Kriegsspielkarten, RPG-Karten] durchgespielt. Beeindruckt von „Der Herr der Ringe“ wollte Arneson im Kriegsspiel einmal anstelle von Konfliktparteien Individuen spielen. In einem solchen Rollenspiel sollte die Welt von Tolkiens Mittelerde erfahrbar werden. 1971 entwickelte Arneson ein System, das Spieler als individuelle Charaktere durch virtuelle Welten laufen, Zaubersprüche sprechen und mit magischen Schwertern gegen Drachen, Hobogoblins und dergleichen kämpfen ließ. Zusammen mit einem anderen Kriegsspieler, Gary Gygax, machte er daraus das erste kommerzielle Rollenspiel: „Dungeons & Dragons“. Noch heute funktionieren klassische, papierbasierte Rollenspiele nach dessen Prinzip: Der Spielleiter beschreibt den Spielern die Räume durch sie sich bewegen und die Menschen, die sie treffen. Er ist die Schnittstelle zur Spielwelt.

Die Idee, statt eines menschlichen Spielleiters den Computer als alternative Schnittstelle zur Spielwelt zu benutzen, hatte 1972 ein begeisterter „Dungeons & Dragons”-Spieler der ersten Stunde. Der 32jährige William Crowther programmierte das Spiel „Adventure”: [Illustration 13, Adventure] Satz für Satz musste der Spieler sich die Welt von „Adventure” – eine unterirdische Höhle mit Schätzen und Ungeheuern – erarbeiten, mit der er über Textbefehle interagierte. Der Spieler hat bei „Adventure” relativ viel Zeit für seine Entscheidungen – die Schwierigkeit ist eher, aus der Vielzahl möglicher Handlungen eine Richtige auszuwählen. Hohe Geschwindigkeit ist dabei uninteressant, das Spiel macht sogar mehr Spaß, wenn man langsam, Wort für Wort und in späteren Spielen dann Bild für Bild die Spielwelt durchwandert und kennen lernt.

Dieser wesentliche Reiz der Rollenspiele gilt heute noch: Durch Regeln vermitteln sie einen Eindruck einer anderen Welt. Im Gegensatz zu Actionspielen wirken erzählende Spiele nicht primär durch die Intensität der durch sie hervorgerufenen Sinnesreize, sondern durch die Kontingenz und Größe ihrer aus Beschränkungen und Freiheiten geformten Weltschöpfung.
Heute sind diese Ereignisräume größer. Lange Zeit bedeutete in Rollenspielen Charakterentwicklung tatsächlich allein die Steigerung numerischer Werte. [Illustration 14, altes AD&D-Spiel] Das war einmal. In dem hoffentlich in diesem Jahr erscheinende Spiel „Fable” [Illustration 15, Fable] wird man einen Spielcharakter von der frühen Jugend bis ins hohe Alter begleiten. Das Spiel soll alles enthalten, was Rollenspielen bis heute fehlt: Sonnenbrand, Bekannte, die sich noch nach Jahren gespielter Zeit an vergangene Ereignisse erinnern, Bewunderer, welche die Frisur ihres Helden nachahmen, Muskeln, die sich den tatsächlichen Bewegungen gemäß entwickeln.

Das Ergebnis solcher Spiele kann als Erzählung erscheinen – doch hier muss man wieder das Kaleidoskop als Metapher benutzen: Das Spiel ist nicht die durch einen konkreten Spielverlauf geschaffene lineare Ereignisfolge, sondern der Mechanismus zu deren Schaffung.

Spieldesigner sind daher wohl eher als Architekten denn als Erzähler zu sehen. Die Beschaffenheit des Bildraums überschneidet sich insbesondere in Egoshootern mit der des Ereignisraums und gibt dem Spiel seine Dramaturgie. Ziel ist bei der Konstruktion solcher Spiele nicht Realitätsnähe. Kein Nachtclub in der physischen Realität hat solch lange, schmale und weit verzweigte Gänge und solch labyrinthartige Türanordnungen wie der Club „Ragna Rock” [Illustration 16, Max Payne] im Spiel „Max Payne”. Aber im Spiel sind Fluchtwege und die gute Erreichbarkeit der Toiletten irrelevant. Wichtig ist allein die Dramaturgie.  Längere Wegstrecken, bei denen Spannung entsteht, weil in jeder Wandeinbuchtung und hinter jeder Tür ein Gegner lauern kann, müssen sich mit großen Räumen abwechseln, in denen Platz genug für Kämpfe mit vielen Gegnern sind. Solche Plätze nennen Designer „action bubbles”. In dieser Metapher sind Handlung und Raum ähnlich verschränkt wie im Bezeichneten.

Fazit:

Subversion kann in Spielen nicht im klassischen Sinne erzählt werden. Entweder lernt man mit einem Modell etwas über die physische Realität oder man lernt im Modell etwas über das Modell. Die zweite Komponente ist vielleicht noch wichtiger, denn jedes Spiel bringt seine eigene Ideologie mit.
Nach dieser grundlegenden Definition von Bild- und Ereignisraum nun etwas mehr zum Lernen in diesen Räumen und über sie.

Ästhetik der Bewegung durch den Bildraum

Stimulation statt Simulation
Die Güte vieler aktueller Spiele bemisst sich zu einem großen Teil nach der Anzahl der gleichzeitig darstellbaren Bildpunkte, Farben, bewegten Flächen und Lichtreflexe. Der Bildraum entscheidet über den Publikumserfolg der Egoshooter und auch über den vieler Rollenspiele. Heute werden viele PC-Spiele – gerade Actiontitel wie „Return to Castle Wolfenstein” [Illustration 17, Return to Castle Wolfenstein] – für Technologien entwickelt, die nur als Prototypen existieren. Unternehmen wie der Graphikkartenhersteller Nvidia versuchen, ihre Produkte zum Fetisch für Spieler zu entwickeln. Wenn genügend Spieler die Produkte eines Hardwareherstellers kaufen, werden die Spielhersteller dessen Technologie auch unterstützen. Das Mooresche Gesetz wird also nicht nur in den von Spielen produzierten Bildern für alle sicht- und erfahrbar, sondern umgekehrt treibt die Sucht nach spektakulären audiovisuellen Sinnesreizen auch die Hardwareproduktion zur Einhaltung des Mooreschen Gesetzes.

Der technische Wettlauf um immer stärkere Sinneseindrücke lässt sich entlang der erfolgreichsten Actionspiele der Arcade-Ära der siebziger Jahre beschreiben. Der Unterschied zu heutigen Actionspielen, vor allem zu Egoshootern wie „Return to Castle Wolfenstein“ ist, dass in ihnen die Spielstufen vor allem durch eine eigene Architektur und Topografie als eigene Orte definiert sind.

Dadurch bedienen die modernen Actionspiele ein besonderes Rauschbedürfnis: Es ist nicht mehr die Geschwindigkeit an sich, in der das Spiel abläuft und in welcher der Spieler auf seine Reize reagieren muss. Vielmehr ist es die Geschwindigkeit, mit der Räume durchstoßen und erfahren werden können. „Battlezone” [Illustration 18, Battlezone] war 1983 eines der ersten Spiele, das diese Erfahrung bot. Die Steuerung war der echter Panzer nachempfunden: Zwei Joysticks, für jede Panzerkette einer, sodass eine Vielzahl von Bewegungen im Spielraum möglich wurde. Den nahm der Spieler aus der Egoperspektive war, er blickte nicht mehr aus einer auktorialen Perspektive auf das Geschehen, sondern konnte sich als dessen Teil fühlen.

In den neunziger Jahren setzten vor allem die Spiele des Unternehmens „id Software“ diese Tradition fort. Mit enormer Geschwindigkeit bewegt man sich in ihnen durch dreidimensionale Räume. Der Fortschritt von Spiel zu Spiel definiert sich daher nicht durch inhaltliche Innovation, sondern vielmehr durch die Intensivierung der Sinneseindrücke. Von „Doom“ [Illustration 19. Doom] zu „Quake“ [Illustration 20, Quake] verbesserte sich nicht nur die Auflösung der Grafik – die Spieler konnten vor allem den Blick ganz nach unten auf den Boden oder nach ganz oben an die Decke wenden.
Actionspiele unterscheiden von anderen Genres durch diese extreme Betonung physischer Sinneseindrücke. Statt der Simulation steht die Stimulation im Vordergrund.

Kritiker werfen insbesondere Spielen dieses Genres vor, ihr Fetisch des Fotorealismus würde das Entstehen wirklich spannende Darstellungsweisen verhindern. Es gäbe keinen Expressionismus, keinen Impressionismus – lediglich einen sehr platten Illusionismus.

Doch es gibt in vielen Spielen Momente, die diese Darstellungsweise unterlaufen. „Max Payne” zum Beispiel ist eigentlich ein klassischer Egoshooter. [Illustration 21, Max Payne] Die Bildräume sind dreidimensional, die Texturen sehr detailreich, die Schattenwürfe folgen den physikalischen Gesetzen unserer Welt. Doch diese Bilder werden durch andere infrage gestellt: Dreimal findet sich der Spieler in drogeninduzierten Visionen des Spielcharakters wieder. Die Gänge [Illustration 22, Max Payne] werden hier länger, während man sie durchläuft, die Perspektive ist verzerrt, der Fluchtpunkt entfernt sich durch Bewegung immer weiter. Diese Bilder sind nicht neu, doch ihre besondere Wirkung entfalten sie dadurch, dass es eben keine Bilder sind, sondern ein Bildraum, durch den sich der Spieler bewegt. Es gibt kein außerhalb, kein jenseits der Gesetze der Spielwelt und innerhalb dieses als Level abgeschlossenen Raumzeit-Kontinuums auch kein vorher und nachher. Dieser Bildraum hat seine eigene, in sich schlüssige – um nicht zu sagen abgeschlossene – Logik. Tritt man zum Beispiel von der roten Blutspur [Illustration 23, Max Payne] einen Schritt zur Seite in die Schwärze, stürzt man. Im Umfeld von Kerzen ist es auch in Max Paynes Vision heller. Gravitation und Ausbreitung des Lichts funktionieren. Der Geist des Spielcharakters als Bildraum, den der Spielcharakter durchlaufen kann, weckt Zweifel an den fotorealistischen Räumen der anderen Spieleinheiten: Entspringen nicht auch sie zum Teil der Wahrnehmung des psychisch labilen Helden? Oder den Regeln, nach denen ein sinnlich spektakuläres Spiel zu funktionieren hat? Immerhin kann der Spielcharakter die Zeit langsamer ablaufen [Illustration 24, Max Payne]  lassen, um sich wie im Film „Matrix“ langsamer durch die Zeit zu bewegen als die Umwelt.
Auch das Spiel „Black & White“ zeigt seinen Spieler, wie Geist zu Bildern wird. Hier spiegelt die Landschaft mit der Zeit moralischen Entscheidungen des Spielers wieder: Quält er die Lebewesen der Spielwelt, wird die Landschaft düster. [Illustration 25, Black & White].

Und fast jedes Strategiespiel lässt den Denkprozess seiner Spieler zu Bildern gerinnen: Mit jeder Entscheidung verändern die Spieler die Landschaft. Ihre Strategien lassen sich in manchen Titeln wie Civilization noch nach langer Zeit aus der entstandenen Topografie ablesen. [Illustration 26, Civilization]. In diesen Bildräumen der Strategie- und Taktikspiele fehlen einzelne Figuren als Darsteller. Im Mittelpunkt stehen vielmehr Strategien, Wirkungsketten, Gesetze, das Denken an sich – was die unterschiedlichen topografischen Ansichten zum Beispiel von Civilization zeigen [Illustration 27, Civilization]. Hier ist in den Bildern eine Perspektive kodiert, die ein Film oder Roman niemals gegenüber historischem Geschehen einnehmen könnte: Einzelschicksale sind irrelevant gegenüber dem intellektuellen Experiment. Deutlich wird dieses subversive Potenzial der Bildräume in Strategiespielen, die sich am militärischen Kriegsspiel orientieren. [Illustration 28, Kriegsspiel] Den Krieg sieht man hier in Form von Symbolen für Größe, Tätigkeiten und Zustände der eigenen und – soweit verfügbar – gegnerischen Truppen. Konkretes Sterben, konkrete menschliche Figuren überhaupt sind kaum sichtbar. Solche klassischen Kriegsspiele behaupten, dass ihre Gesetzmäßigkeiten mehr als nur Spielregeln sind. Solange Spieler diese Behauptung nicht hinterfragen, können strategische und taktische Simulationen durchaus bedenkliche Weltbilder von Sicherheit als Nullsummenspiel fördern. Doch natürlich steckt in solchen Spielen auch kritisches Potenzial, da sie ja durchaus vermeintliche – in der Polit-PR auch als solche präsentierte – Gesetzmäßigkeiten des Kriegs als Spielregeln enttarnen, was allein schon die frappierende Ähnlichkeit der Bilder zeigt.

Besonders spannend  – und subversiv – sind Spiele, die zwischen beiden Modi wechseln: Der Egoperspektive wie in „Max Payne“ und der dem Abstrakten Form gebenden des Kriegsspiels. Der Vergleich zwischen zweidimensionaler, schematischer Missionsplanung und dem Durchspielen des Jagens und Tötens in drei Dimensionen in „Rainbow Six“ ist produktiv irritierend. [Illustration 29/30, Rainbow Six]

Die Bildräume von „Max Payne” und „Civilization” zeigen, dass jede Anschauung einer Welt auch Weltanschauung ist. Die Bewegung durch den Raum und durch die Zeit offenbart dem Spieler von „Max Payne” und „Civilization” die Konstruktionsregeln ihrer Bilder: Hier die Genreregeln des jeux noir, nach denen die Spielfigur sich und der Spieler sein Spiel inszeniert; Dort das Primat der Abstraktion über das Konkrete.

Ästhetik der Bewegung durch den Ereignisraum

Wegen der gebotenen Kürze werden jetzt nur die möglichen subversiven Bewegungen in den Ereignisräumen von Simulationen beschrieben. Ihre Struktur ähnelt ein wenig jener der Rollenspiele: Beide laufen als emergenter Prozess ab, in dem der Spieler bestimmte Variablen verändert und der Computer nach vorgegebenen Regeln die Konsequenzen berechnet, die dann wiederum Ausgangsmaterial der nächsten Manipulation werden.

Der Unterschied: Anders als die erzählenden Rollenspiele benutzten Simulationen diesen Prozess nicht vorrangig, um eine Spielwelt spürbar und erfahrbar zu machen. Vielmehr ist der Prozess in Simulationen das eigentliche Ziel des Spiels, nicht Mittel zur Hervorrufung eines Eindrucks von etwas anderem. Deshalb hat der Spieler in Simulationen ein größeres Freiheitspotential. In narrativen Spielen muss es immer einige als richtig definierte Entscheidungsoptionen geben, welche die Erzählung vorantreiben. In Simulationen hingegen kann im Prinzip auf solche Unfreiheiten in größerem Maß verzichtet werden. Allerdings nicht vollkommen, denn ein Spiel ohne Ziele ist uninteressant. Nur können Ziele in Simulationen bei weitem abstrakter formuliert werden als in anderen Spieltraditionen.

Manche Simulationen verlangen das Steuern von Fahr- oder Flugzeugen unter bestimmten, der physischen Realität nachempfundenen Bedingungen, andere taktische oder strategische Planung, Ressourcen-Management oder den Aufbau funktionierender Subsysteme, beispielsweise einer Zivilisation in der sehr populären Spielreihe „Civilization“.
subversive Bewegung

Weil dabei der Prozess im Mittelpunkt steht, das Experimentieren der wesentliche Reiz des Spiels ist, können sie etwas leisten, wobei jedes andere Medium versagt: Emergenz spürbar machen. Emergenz kann man bei jeder Ameisenkolonie beobachten: kollektives intelligentes Verhalten, das sich weder auf eine zentrale Instanz noch auf eine von allen Ameisen geteilte Planung zurückführen lässt. Es resultiert aus einzelnen, nur für einen sehr beschränkten Entscheidungshorizont wirksamen Gesetzmäßigkeiten. Das gleiche Prinzip ist manchmal bei der Entwicklung von Städten oder sozialen Gruppen und natürlich bei der Evolution zu beobachten.

Doch der Computer ist das ideale Werkzeug, um bewusst Emergenz als Konstruktionsprinzip zu nutzen. Computer sind dazu gebaut, viele unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten mit eng begrenzter Gültigkeit und zahlreichen Variablen zu verwalten.

Die Bewegung durch die Ereignisräume von „Black & White“, „Civilization 3“ oder „Die Sims“ lehrt vor allem eins: Die Spielerfahrung resultiert gleichermaßen aus den Handlungen des Spielers, den Interaktionen mit den computergesteuerten Spielcharakteren, einer Vielzahl anderer Variablen und den Gegebenheiten der Spielwelt. Keiner der Faktoren bestimmt allein den Ablauf des Spiels. Ihn zentral zu planen, ist unmöglich. Auf Grund dieser von unten nach oben verlaufenden Prozesse, die ohne zentrale Steuerung eine Ordnung höhere Qualität hervorbringen, fördern diese Spiele ein neues Weltbild.

Diese Erfahrung lässt vermeintliches Chaos als eine Form der Ordnung erscheinen, die lediglich nicht als Ganzes wahrgenommen werden kann. Hier wenden sich Computerspiele gegen die klassische Denkart von Fortschritt und Utopie. Francis Bacon zum Beispiel suchte in „Neu-Atlantis“ eine Methode, alle zukünftigen wissenschaftlichen Entdeckungen zu programmieren, den Fortschritt unabhängig vom Zufall zu machen. Dieses Ideal einer zentraler Ordnung ist wesentlicher Bestandteil klassischer Utopien.

Doch es war schon im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß. Die Utopiekritik in Werken wie beispielsweise Jewgenij Samjatins Roman „Wir“ führt das Umschlagen positiver Utopien in negative auf deren Grundsatz zurück, die Gesellschaft als Ganzes habe Vorrang vor der autonomen Vernunft des Einzelnen.

Wenn aber Utopie und vor allem die Position des Einzelnen in ihr nicht mehr durch vorgegebene Leitideen, Werte, Normen und Strukturen definiert werden kann, muss dies eine neue Form leisten. Wenn also Utopien ihrem Thema, eben der Gestaltung des Gemeinwesens, gerecht werden wollen, müssen sie emergente Prozesse nutzen, anstatt sie durch zentrale Planung und das Ideal vollkommener staatlicher Ordnung zu unterdrücken. Computerspiele machen dieses Denken erfahrbar.

Die Gesetze des Spiels und ihre subversive Bewegung

Der Code ist Gesetz
Spiele müssen Gewinn und Verlust definieren. Deshalb beinhalten sie – wie groß auch immer Bild- und Ereignisraum sind – systematisierte wertende, weltanschauliche Grenzen – eine Ideologie eben.
Gerade ein Spiel wie „Sim City”, [Illustration 31, Sim City] das die Simulation schon im Namen trägt, zeigt, dass Computerspiele nicht Simulationen im eigentlichen Sinne, also modellhafte Nachbildungen eines Systems durch einen kleineren Ersatz sind. Denn in erster Linie funktionieren Simulationen wie „Sim City” als Spiele, zum Beispiel beim dramaturgischen Aufbau oder bei den von Spieldurchgang zu Spieldurchgang unverändert geltenden Gesetzmäßigkeiten.
So sinkt in „SimCity“ beispielsweise in der Nähe von Polizeistationen die Kriminalitätsrate automatisch, wollen Menschen in einem Viertel mit einem großen Verkehrsknotenpunkt lieber wohnen als in einem anderen.
Klassische Strategie- und Taktiksimulationen wie „Panzergeneral“ oder „Command and Conquer“ [Illustration 33, C&C] zeigen, dass auch Simulationen ihren Spielern viel Freiheit nehmen können. Beide sind Nullsummenspiel, die im Prinzip nur ein Ende haben dürfen: den absoluten Sieg. Solche Simulationen sind eigentlich noch viel restriktiver als narrative Spiele. Sie bieten zwar im Spielverlauf mehr Handlungsoptionen, laufen aber alle auf ein durch die Eigengesetzlichkeit des Spiels determiniertes Ende zu.

Dabei behaupten sie aber, dass ihre Gesetze auch in der Realität gelten. Denn der Reiz der Simulationen resultiert natürlich auch aus dem Glauben an diese Behauptung, die Gesetze des Spiels würden außerhalb der Spielwelt gelten. Doch das muss nicht stimmen. Strategische oder räumliche Simulationen übernehmen zwar gewisse Gesetze aus der Wirklichkeit, doch längst nicht alle.

Das Besondere an Computerspielen, dass der Spieler sich der geltenden Gesetze und Gesetzmäßigkeiten bewusst werden muss, um zu siegen. Er muss die Ideologie des Spiels offen legen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Computerspielen und Spielen, die einen Computer benutzen: Bei klassischen Spielen müssen zuerst die Regeln gelernt und verstanden werden, dann erst ist das Spielen möglich. Bei Computerspielen hingegen kommt zuerst das Spiel. In dessen Verlauf lernt man dann seine Regeln sukzessiv durch Erproben. Dieser Prozess ist ein wesentliches Element originärer Computerspiele: Langsam begreift man ihre Grenzen, die ihnen inhärente Logik und die eigenen Freiheitsgrade als Spieler. Der Prozesscharakter des Mediums Computer ermöglicht dieses lehrreiche Prinzip des Trial-and-Error.
Das ist Subversion. Obgleich die Verhältnisse im Spiel umgekehrt zum klassischen Verständnis subversiven Handelns sind: Subversion wird meist definiert als eine verborgene Tätigkeit, die auf den Umsturz der staatlichen Ordnung zielt, also getreu der lateinischen Wortbedeutung das Unterste nach oben kehren. Der hier postulierte Gegensatz von verborgener Umordnung und offen liegender Ordnung ist im Computerspiel verdreht. Hier sind die Gesetze verborgen, während das offensichtliche Handeln des Spielers als kritische Praxis funktionieren kann, weil es die verborgenen Gesetze bewusst macht.

Arbeit am Raum

Die besondere Form der Ideologie von Computerspielen erleichtert eine andere Form der Subversion:  Gerade weil die Gesetze in den Code des Spiels eingeschrieben sind, ist das Potenzial zur Subversion an der Form des Kulturprodukts höher.

Dieses Phänomen umfasst nicht nur die unzähligen Cracks, Manipulationen und Lösungsanleitungen für jeden neuen Spieltitel, sondern vor allem das Schaffen eigener Spielwelten jenseits der Vorgaben der Designer.
So genannte „Mods“ – eine Abkürzung für Modifications – sind von Spielern gemachte, neue Räume in kommerziell vertriebenen Spielen. [Illustration 35, Synreal] Diese Veränderungen können lediglich die Topografie betreffen, aber auch neue Figuren, Ziele und Spielregeln einführen. Die Spielindustrie toleriert solche Veränderungen in einem gewissen Rahmen, setzt sie zum Teil sogar in eigene Produkte um. Die Grenzen zwischen Affirmation und Subversion sind hier also fließend.

Denn erst sobald die Hersteller den Code öffnen, ist eine Arbeit an beiden Bild- und Ereignisräumen möglich. Und das tun sie meist aus kommerziellen Überlegungen.
Manche Spieler benutzen Spiele dann auch für von den Designern gänzlich unerwartete Zwecke, zum Beispiel zur Produktion so genannter Machinima-Filme mit der Technik kommerzieller 3-D-Actionspiele. Gerade die so berüchtigten Egoshooter haben in den vergangenen Jahren nicht nur erstaunliche Grafikfähigkeiten, sondern auch eine relativ offene Programmstruktur erlangt.

Fazit

Sucht man Subversion in Spielen jenseits der Narration, entdeckt man einen spannenden Dualismus: Spiele verlangen von ihrem Spieler kreative Inszenierung des Bild- und Ereignisraums – innerhalb der von den Designern vorgegebenen, mal engen, mal weiten Grenzen.

Diese Grenzen zu finden, sich den Gesetzen des Spiels zu unterwerfen, um zu gewinnen, ist ein wesentliches Element des Computerspiels. Ein anderes, nur scheinbar widersprüchliches Element ist das bewusste Ausnutzen eben dieser Gesetze, ihr Brechen, das Überschreiten der von den Designern gezogenen Grenzen auf der Suche nach etwas wie Transzendenz.
Spiele lehren einen dualen Umgang mit Computertechnologie. Die Maschine erfüllt die Wünsche der Spieler nach immer neuen, stärkeren Sinneseindrücken und verlangt im Gegenzug die Unterwerfung unter ihre Gesetze. Gerade Computerspiele, vor allem die grafisch Überwältigenden, schränken die Freiheit der Spieler stark ein. So lustvoll aber sich die Spieler den Gesetzen der Soft- und Hardware unterwerfen – sie denken immer auch das Jenseits mit. Und suchen es. Im nächsten Spiel, einer anderen Inszenierung, der eigenen Modifikation.