Für digitale Nachhaltigkeit
(1) Das Netz ist in einem traurigen Zustand - gemessen am Anspruch der Diskurs und Demokratie auf ein neues Niveau zu heben
Kleiner Rant über die Nachhaltigkeit des Internets als Ort des gemeinsamen Denkens: Ich glaube, das Netz ist insgesamt in einem traurigen Zustand. Es gibt großartige Nischen auf Mastodon, in Newslettern wie denen von Adam Tooze oder Robert Cottrell, in Podcasts wie den Neuen Zwanzigern, die die Tradition der inspirierten und inspirierenden Sachbuchrezension weiterführen. Nichts gegen Nischen. Aber: Das Netz sollte einmal gesamtgesellschaftlich Diskurs und Demokratie auf ein neues Niveau heben, wenn ich mich an die Debatten der Nuller- und Zehnerjahre erinnere. Gemessen an diesem Anspruch sind wir nicht weiter gekommen, im Gegenteil.
(2) Wenige Mega-Plattformen schieben Affekt-Provozierendes an die Spitze
Die wenigen Riesen-Plattformen, die großen Publikumsströme verteilen, schieben solche Inhalte an die Spitze: Emotionen und Affekte provozieren, schnell, automatisches, stereotypisierendes, unbewusstes Denken anregen. Nennen wir es System 1 Inhalte (in Anlehnung an Daniel Kahnemanns Typologie aus „Schnelles Denken, langsames Denken“). Ich hätte lieber weniger von diesem Zeug, das oft als Reaktion auf irgendetwas und immer öfter schnell und billig mit generativer Software (=„KI“) produziert wird.
Ich hätte lieber mehr Inhalte an der Spitze der Plattformen und der Aufmerksamkeitsverteilung, die abwägen und anregen, die wissenschaftlichen und/oder journalistischen Prinzipien folgen, die aus erster Hand berichten statt aus zweiter oder dritter Hand zu reagieren, die etwas anstrengender sind, die etwas bewusster zum Nachdenken anregen. Nennen wir es System 2 Inhalte (in Anlehnung an Kahnemann).
Für mich ist ein nachhaltiges Netz eines mit mehr Verbreitung von System 2 Inhalten und mit mehr Anreizen, so etwas zu produzieren und zu veröffentlichen
Kleiner Exkurs: Die Idee der Nachhaltigkeit kommt aus der Forstwirtschaft. Grob gesagt hatte Carl von Carlowitz 1713 den Gedanken: Es darf nur so viel Holz aus dem Wald geholt werden wie nachwächst. Nun werden Gedanken im Netz nicht verbraucht, wenn sie jemand wahrnimmt. Irgendwer stellt immer irgendwas ins Netz.
(3) Generationen von Menschen und KIs am dominierenden Affekt-Schrott im Netz lernen zu lassen, ist eine schlechte Idee
Deshalb braucht meine Definition von digitaler Nachhaltigkeit einen Qualitätsanspruch. Mehr System 2, weniger System 1, weniger Affekt und Hass und Reaktion und KI-generierter Müll. In einem nachhaltigen Netz gedeiht System 2. Im Moment ist das Gegenteil der Fall. Affekt- und Reaktionsvideos und Hetze gedeihen, weil sie billiger und schneller zu produzieren sind und auf der Handvoll relevanter Plattformen besser klicken. Der Schrott wächst schneller. So wie zu lange Zeit die Fichten-Monokulturen im Nutzwald. Bis die Wärme und der Borkenkäfer massiv kamen und Schluss war mit den Fichten-Monokulturen. Ich weiß nicht, was in diesem Bild der Borkenkäfer der digitalen Sphäre sein wird. Aber Generationen von Menschen und KIs an dem dominierenden System-1-Schrott im Netz lernen zu lassen, kann keine gute Idee sein. Wer viel Schrott lernt, produziert viel Schrott, ob Software oder Mensch.
(4) Der Status quo ist auch diesem Dogma zu verdanken: Machen lassen, Staat raushalten
Dass es insgesamt nicht besser aussieht, liegt glaube ich auch daran, dass die wesentliche und zu lange geltende Überzeugung zum Netz im Netz wer: Machen lassen, Staat raushalten, Selbstorganisation regelt es, die unsichtbare Hand des Marktes / der Mitmachenden. Das hat in Summe nicht gut funktioniert, beziehungsweise einfach nicht skaliert. Das Netz ist ein Massending geworden, wo alle alles auf sehr wenigen Plattformen machen. Ich würde sagen: Die Hypothese, die beste gesellschaftliche Wirkung des Netzes entsteht durch Raushalten und laufen lassen, ist widerlegt. Sehr schön illustriert das der Apple-Werbespot mit der Kunst-zu-Schrottpresse.
(5) Besser kann es nur werden, wenn man Scheitern anerkennt und Anspruch definiert
Unterm Strich mein Zwischenfazit aus fast 30 Jahren digitaler Gesellschaft, in denen das Netz zum Massenmedium geworden ist: zu viel Energie in zu vielen Abwehrkämpfen, zu wenig Förderung und kluge Regulierung, zu wenig positive Praxis in den Mainstream gebracht. Das kann alles noch werden! Aber dafür muss man vielleicht erst einmal Bilanz ziehen und sich eingestehen, was gescheitert ist und positiv definieren, was der eigene Anspruch an ein nachhaltiges Netz ist.
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Danke an Steffen Voß für den Hinweis, dass es mit kluger Regulierung in den Nullen Jahren heute vielleicht keine Mega-Plattformen und Chancen für viel mehr gäbe, irgendwo eine Nische zu finden, in der sie gut existieren können.