Heimat ist, wo der Kaiser hängt
Beim Lesen der Spiegel-Titelgeschichte ist mir ein Text eingefallen, den ich für die Ausstellung Quellcode des großartigen Fotografen Süleyman Kayaalp geschrieben habe. Süley hat Heimat fotografiert, ich habe über meine Uroma und mich geschrieben – sie hat ohne Umsiedlung in fünf unterschiedlichen Staaten gelebt.
Wo für mich Heimat ist, dafür habe ich einen ziemlich zuverlässigen Indikator gefunden: Nach welchem Ort haben Sie beim ersten Aufruf von Google Maps, von Flickr, von Street View gesucht? Als ich irgendwann im Frühjahr 2006 von den Satellitenaufnahmen Deutschlands bei Google las, habe ich mir online gleich das Ruhrgebiet herangezoomt, bis die Reste der alten Eisenbahnstrecke am Mühlenbach im Süden Essens zu sehen war, an der ich als Kind mit meiner Uroma spazieren ging. Später habe ich mir noch die Satellitenfotos des Biergartens neben dem Geschwister-Scholl-Institut in München angeschaut, in dem ich während des Studiums viele Wochenendseminare verbrachte.
Ein paar Jahre später kam Street View und ich fuhr am Computer in Hamburg durch mein altes Viertel in Essen, an dem düsteren Ziegelbau meiner Grundschule vorbei, der heute so viel kleiner wirkt. Die Altendorfer Straße hoch über das alte Gelände der Krupp-Werke, wo man früher zwischen Industrieruinen zu Drum’n’Bass ausging und wo heute nur Büroneubauten stehen. Auf der Brücke über den Margarethensee im Grugapark, an dessen Ufer wir an lauen Sommerabenden Gras rauchten.
Das alles fühlt sich nach Heimat an und das ist so schwierig an diesem Begriff: Er beschreibt ein Gefühl, eine emotionale Bindung an einen Ort, Menschen, eine Zeit. Heimat ist nicht allgemein definierbar, jeder schafft sie sich selbst. Meist merkt man erst im Rückblick, was einmal Heimat war, oder auf Reisen im Ausland, was gerade Heimat ist. Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, antworte ich: In Polen geboren, im Ruhrgebiet aufgewachsen. Das klingt gut, doch tatsächlich ist die Aufzählung meiner ersten Google-Streifzüge die präzisere Heimatbeschreibung.
Wenn ich mit Freunden über ihr Heimatgefühl spreche, beschreiben sie Orte, Gerüche, Speisen aus der Kindheit. Und ich auch: Heimat riecht für mich nach dem in der Sommerhitze flirrenden Teeröl der alten Holzschwellen verlassener Bahnstrecken und schmeckt nach Krupnioki – den Graupenwürsten, die meine Uroma nach unseren Spaziergängen manchmal zum Abendessen briet.
Von so etwas kann jeder meiner Freunde erzählen, das ist Heimat. Dann vielleicht auch der Kiez, in dem sie nun wohnen, manchmal auch die Stadt, in der sie leben. Und dann kommt immer der Augenblick, in dem es abstrakt und kompliziert wird: Deutschland? Ist Deutschland Heimat? Was daran? Ich habe da noch nie von jemandem eine Antwort gehört, die so detailliert und emotional ausfiel wie die Beschreibungen des Geschmacks, des Geruchs der Heimat. Klar, es gibt noch Fußball, die Nationalmannschaft, mit der manche leiden oder jubeln – aber sonst? Das Brot, das im Ausland fehlt. Tagesschau, Tatort, Gute Zeiten, Schlechte Zeiten – also mit allen geteilte Erinnerung. Mehr ist da nicht.
Fehlt da etwas? Ich glaube nicht. Heimat ist etwas ganz anderes als die Nation, das war Jahrhunderte lang so. Es gab keine Nationalstaaten. An den frühen europäischen Universitäten waren die Nationes Verbindungen von Studierenden und Dozenten. Zu welcher Korporation man gehörte, beruhte durchaus auf der Herkunft. Aber das waren sehr weit gefasste Definitionen: In Paris gab es seit dem 13. Jahrhundert gerade mal vier Nationes, eingeteilt nach den Himmelsrichtungen: Zur Natio Anglicana gehörten zum Beispiel die Lernenden und Dozenten aus Böhmen, Dänemark, Deutschland, England, Irland, Norwegen, Polen, Schottland, Schweden und Ungarn.
Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts begannen Menschen, bis dahin getrennte Konzepte wie Staat, Heimat, Volk, Herrschaft und Herkunft zum Nationalismus zu vermengen. Nach der Französischen Revolution sollte die Idee des Nationalstaats das neu entstandene Gebilde Republik zusammenhalten und die Bevölkerung gegen König, Adel und Klerus vereinen. Ich habe hier nur den Platz, um etwas über mein Heimatgefühl zu schreiben, nicht über 1848, die Weltkriege, den Nationalsozialismus. Aber, um es ganz kurz und sehr verallgemeinernd abzuschließen: Dass einige Jahrzehnte lang viele Menschen Heimat und Nation verwechselt haben, dass aus so vage definierten und emotional aufgeladenen Konzepten wie Volk und Heimat ideologische Instrumente wurden, hat seinen Anteil an den Kriegen und dem Terror des 20. Jahrhunderts.
Es ist also ganz gut und historisch gesehen völlig normal, dass wir an Brot oder die Bude an der Ecke denken, wenn wir von Heimat sprechen. „Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl“, singt Herbert Grönemeyer.
Wie absurd und verheerend es ist, Nationen mit Heimat zu verwechseln, hat mir meine Uroma vermittelt. Wenn wir in dem Wäldchen an der aufgegebenen Güterstrecke in unserem Viertel in Essen spazieren gingen, erzählte sie oft von Kochłowice. In diesem Dorf in Oberschlesien kam sie 1902 zur Welt – im deutschen Kaiserreich. Sie hat Kochłowice 77 Jahre lang nicht verlassen und dabei ohne Umsiedlung in fünf unterschiedlichen Staaten gelebt: dem Kaiserreich, der Autonomen Woiwodschaft Schlesien, der zweiten polnischen Republik, dem Dritten Reich und der Volksrepublik Polen. 1979 verließ meine Uroma Kochłowice für immer, sie zog zu ihrer Tochter ins Ruhrgebiet, wo sie heute in einem Urnenfeld begraben liegt, ein paar hundert Meter von der Bahnstrecke, an der wir spazieren gingen.
Es ist schwer zu sagen, wie meine Uroma Essen empfunden hat. Ich glaube nicht, dass sie sich fremd fühlte, aber richtig gerührt von so etwas wie einem Heimatgefühl habe ich sie nur einmal in Erinnerung: Wir waren zum Sonntagsausflug in die Villa Hügel gefahren, das ehemalige Anwesen der Krupps in Essen. Meine Uroma blieb in einer der Hallen stehen, schaute ehrfurchtsvoll zu einem Gemälde hinauf und seufzte: „Unser Kaiser!“ Dann schaute sie noch eine Weile versonnen hinauf zu dem Bild von Wilhelm II.. Meine Uroma fühlte sich zuhause, sie hatte ihre gesamte Volksschulzeit über auf ein Porträt Wilhelm II. geschaut, es hing im Klassenzimmer vorne an der Wand hinter dem Pult der Lehrerin hing. Heimat war für meine Uroma dort, wo der Kaiser hing.
Ein Heimatfragment hat mir meine Uroma mitgegeben: Die Graupenwurst, die wir manchmal zum Abendbrot aßen. Ein Krupniok muss beim Braten aufplatzen, die Innereien müssen im Fett kross anbraten. Und nachdem die Krupnioki vom Teller gegessen sind, wischt man mit Brotstücken das Fett aus der Pfanne. So hat meine Uroma das einmal am Küchentisch in Kochłowice gegessen, so habe ich das 1000 Kilometer weiter westlich gelernt. Krupniok statt Kaiser – das ist wohl ein Fortschritt.
Ich hab mit meinem Kollegen Frank Patalong aus Walsum ein Buch übers Ruhrgebiet geschrieben: Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach.