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Kinderarbeit, Armut, Lieferketten - das muss man wissen

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen
Kinderarbeit, Armut,  Lieferketten -  das muss man wissen

Der Streit in Deutschland um die EU-Lieferkettenrichtlinie macht mich wütend. Und zwar, weil ich in vielen Überschriften und Statements Kinderarbeit lese. Aber immer nur als bloßes Schlagwort, als Argument zum Punkten in der Auseinandersetzung. Aber nirgends die Details, was Kinderarbeit heute ist, wie viele betoffen sind, wie wir die Lage verbessern können. Nirgends Gedanken über die Sache um der Sache selbst willen. Wütend bin ich geworden, nachdem ich mir ein paar ältere Quellen zusammengesucht und nachgelesen habe, wie es gerade aussieht auf der Welt in Sachen Kinderarbeit. Hier fünf Erkenntnisse und Lektüre-Tipps:

1. Es geht hier nicht um ein paar Stunden Aushilfe in der Woche in der Familie. Es geht um systematische Misshandlung.

Die EU-Richtlinie (Link) definiert im Anhang, was mit „negative Auswirkungen auf die Menschenrechte“ gemeint ist (Artikel 3 c) Begriffsbestimmungen). Im Anhang 1 unter 11 steht: „Verstoß gegen das Verbot der Kinderarbeit gemäß Artikel 32 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, einschließlich der schlimmsten Formen der Kinderarbeit (wobei als Kinder alle Personen unter 18 Jahren gelten) gemäß Artikel 3 des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation über die schlimmsten Formen der Kinderarbeit von 1999 (Nr. 182).“

Was sind die „schlimmsten Formen“? Hier die Quelle (Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, 1999):

„a) alle Formen der Sklaverei oder alle sklavereiähnlichen Praktiken, wie den Verkauf von Kindern und den Kinderhandel, Schuldknechtschaft und Leibeigenschaft sowie Zwangs- oder Pflichtarbeit, einschließlich der Zwangs- oder Pflichtrekrutierung von Kindern für den Einsatz in bewaffneten Konflikten;
b) das Heranziehen, Vermitteln oder Anbieten eines Kindes zur Prostitution, zur Herstellung von Pornographie oder zu pornographischen Darbietungen;
c) das Heranziehen, Vermitteln oder Anbieten eines Kindes zu unerlaubten Tätigkeiten, insbesondere zur Gewinnung von und zum Handel mit Drogen, wie diese in den einschlägigen internationalen Übereinkünften definiert sind;
d) Arbeit, die ihrer Natur nach oder aufgrund der Umstände, unter denen sie verrichtet wird, voraussichtlich für die Gesundheit, die Sicherheit oder die Sittlichkeit von Kindern schädlich ist.

2. Nochmal: Es geht um körperliche und seelische Schäden durch Arbeit. Schnittwunden, Haltungsschäden, abgetrennte Finger, Arbeit statt Schulbesuch.

Anschaulich beschreiben es Hilfsorganisationen in diesem Beitrag von 2019:
In Asien, Hauptexporteur für Textilien, arbeiten sieben Prozent aller Kinder und damit 62 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) handelt sich hier um Tätigkeiten, welche die körperliche oder seelische Entwicklung von Kindern schädigen und sie ihrer Grundrechte berauben. Es geht hier nicht um ein paar Stunden Aushilfe im elterlichen Betrieb. Sondern:

"Kinder, die auf Baumwollplantagen arbeiten, erkennt man leicht an ihren hellen oder rötlichen Strähnen im Haar", sagt Barbara Küppers von der Hilfsorganisation für Kinder, Terre des Hommes. Die Haarverfärbungen, aber auch Flecken auf der Haut, kämen von den Pestiziden, die beim Anbau von Baumwolle eingesetzt werden, erklärt sie. Junge Mädchen in Textilspinnereien in Indien wiederum würden Schnittwunden an den Händen aufweisen, teilweise fehlten ihnen sogar Finger. Aber auch Haltungsschäden und Atemwegserkrankungen sind bei den Kindern, die in der Textilindustrie arbeiten, zu beobachten. Dabei fangen viele von ihnen bereits vor dem zwölften Lebensjahr an zu arbeiten. Häufig ist Schulabbruch die Folge, wie eine Untersuchung im Auftrag der gemeinnützigen Organisation Save the Children zeigt: In Bangladesch brechen 17 Prozent der arbeitenden Kinder unter 15 Jahren die Schule ab, in Myanmar sind es 20 Prozent. Ein Drittel aller Kinderarbeiter:innen geht erst gar nicht zur Schule. Ihre Zukunft ist damit ungewiss.“Quarks, 2019

3. Mehr und mehr Kinder werden für solche Arbeit missbraucht. 2016 waren es 72 Millionen Kinder. 2021 waren es 79 Millionen Kinder weltweit. Heute sind es noch mehr.

Die UN-Organisationen Unicef und die ILO berichten alle vier Jahre über die Entwicklung von Kinderarbeit weltweit. Details aus dem Bericht 2021:

  • 79 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren arbeiten unter gefährlichen Bedingungen, die Körper und Seele schädigen. Im Sinne des oben erwähnten Übereinkommens 182. Das ist Arbeit, die den Schulbesuch ersetzt, bei der Kinder Finger verlieren und ihre Gesundheit durch Schadstoffe für immer leidet. 79 Millionen Kinder arbeiten so 2020 - 6,5 Millionen mehr als 2016.
  • 28 Prozent der Kinder zwischen 5 und 11 Jahren die arbeiten, besuchen überhaupt nicht die Schule. Eine Bürde für das gesamte Leben.

Es werden heute noch viel mehr Kinder unter solchen Bedingungen arbeiten. Wir schaffen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit nicht ab, wir fördern sie. September 2023 sagte ILO-Leiter Gilbert Houngbo der BBC: "Compound the Covid effect with the rise in inflation and the cost of living that followed [and] it has just made things worse.“

Insgesamt arbeiteten weltweit 2021 160 Millionen Kinder. Das sind 8,4 Millionen mehr als 2016. Diese Definition (Unicef-Daten) von Kinderarbeit schließt auch andere Umstände ein als die „schlimmsten“ nach dem Übereinkommen 182. Aber auch hier geht es keineswegs um etwas Aushilfe. Sondern:

  • Zwischen 5 und 11 Jahren: Mindestens 1 Stunde bezahlte Arbeit die Woche („economic work“) oder 21 Stunden unbezahlte Hilfe im Haushalt.
  • Zwischen 12 und 14: Mindestens 14 Stunde bezahlte Arbeit die Woche oder 21 Stunden unbezahlte Hilfe im Haushalt.
  • Zwischen 15 und 17: Mindestens 43 Wochenstunden bezahlte Arbeit.

4. Der wesentliche Grund ist Armut.

Lebensmittelpreise steigen weltweit. Energiepreise steigen. Wer wenig hat, den trifft das existenziell. Die steigenden Kosten sind nach Einschätzung der Unicef ein wesentlicher Grund dafür, dass Kinder Geld verdienen müssen, damit die Familien genug essen kann. Die Einschätzung im O-Ton im BBC-Bericht:

„The exact circumstances in different countries vary, but the UN children's fund (Unicef) says inflation and the rising cost of living are a "universal concern" that impacts children in a range of ways. "Many families out of desperation need to resort to really impossible choices and negative coping strategies that are affecting children now and in the long-term," said Natalia Winder-Rossi, director of Unicef's social policy and social protection programme.“

In diesem Bericht kommen Kinder und Eltern selbst zu Wort, die in solchen Zwängen leben müssen. Bitte lesen.

5. Verbote allein helfen nicht. Keine Verbote helfen auch nicht. Was es braucht: Differenzierung. Hinsehen. Verstehen. Und konkret helfen.

Sorgfaltspflichten in der EU-Lieferkettenrichtlinie werden nichts daran ändern, dass und wie Kinder arbeiten müssen, nicht für Exporte schuften. Mittelbar aber vielleicht schon: Wenn es zum Beispiel besser bezahlte Arbeit für die Eltern im Export gibt. Aber: Natürlich werden Sorgfaltspflichten ganz unmittelbar etwas daran ändern, unter welchen Bedingungen Exportgüter für uns in der EU gefertigt werden. Es ist kein Entweder-Oder.
Sehr ausführlich und anschaulich führt das die 2012 erschienenen Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ in mehreren Aufsätzen aus. Noch immer lesenswert. Hier aus einem Beitrag einer Expertin von terre des hommes:

„Diese Programmerfahrungen dokumentieren, dass Verbote ohne sozialpolitische Maßnahmen für Kinder und ihre Familien keine Wirkung zeigen und die Situation von Kindern sogar verschlimmern können. Stattdessen muss erstens das Verbot von Ausbeutung durch Programme flankiert werden, die vor allem den Zugang zu qualitativ guter Bildung eröffnen. Zweitens braucht es konkrete Alternativen, die ausgebeuteten Kindern tatsächlich sofort zugute kommen. (…) Wer – umgekehrt – die Regulierung eines Wirtschaftszweiges vernachlässigt, riskiert, dass zwar die einheimischen Kinder in den Projektregionen zur Schule gehen, stattdessen aber Kinder aus anderen Regionen oder noch stärker marginalisierten Bevölkerungsgruppen rekrutiert werden.“

Nichts davon habe ich in der Diskussion zur EU-Lieferkettenrichtlinie gelesen.

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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