Zum Inhalt springen

Kruppstadt 1928, 1999, 2011

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Bei der Recherche für das Ruhrbuch habe ich alte Fotos der Kruppstadt gefunden. Der Fotograf Florian Sander hat sie 1999 in diesem riesigen Brachland direkt neben der Essener Innenstadt gemacht, ich schrieb einen kleinen Text dazu. Heute, nicht mal zwölf Jahre später erkennt man die Gegend kaum wieder. Wenn ich mir die Schwarz-Weiß-Aufnahmen heute ansehe, fühlt sich diese Einöde fast so weit weg an wie damals, 1999 die Geschichten über jene Kruppstadt aus den 1920ern, als dort bis zu 140.000 Menschen arbeiteten und einige auch lebten, als auf 300 Hektar Stadt in der Stadt Fabrikhallen mit 1,5 Millionen Quadratmetern Grundfläche standen.

Dieses Foto von 1910 vermittelt einen Eindruck, wie das damals wohl ausgesehen hat – im Deutschen-Architektur-Forum gibt es eine sehr schöne Sammlung solche Aufnahmen.

1928

Der Reporter Herman Hauser schrieb 1928 in seinem großartigen Revier-Porträt über die Kruppschen Werke: “Will man ihrem Wesen näherkommen, so muss man versuchen, sich nicht durch ihre Größe der Dimensionen erdrücken zu lassen. Es wäre sinnlos, zu erzählen, dass man vom Verwaltungsgebäude bis zum Rand der Werke acht Kilometer mit dem Auto fährt, dass der Kilometerstand meines Wagens nach der Fahrt von Werkstatt zu Werkstatt um fünfzig Kilometer vorgesprungen war.”

Hauser erzählt stattdessen von Details (“seien wir exakt, wie es das Intime ist”). Details wie den Kinderwippen in der Kruppstadt:

“Irgendwo im Zentrum der Werke lag eine kleine Arbeitersiedlung. Es gab da einen Platz mit Bäumen, ein Spielplatz für Kinder mit Sandhaufen und Turngeräten. Eine Anzahl von großen Balken lag da, mächtige braungebeizte Balken, groß wie Schifftsmaste. ‘Was ist das?’ ‘Das sind Kinderwippen.’ Ich glaubte es erst, als ich Kinder tatsächlich darauf schaukeln sah, und ich muss sagen, es waren die schönsten Wippen, die ein Kind sich wünschen kann. ‘Was der Krupp baut, das baut er solide’, sagte der Begleiter.”

1999

Als Kind bin ich Anfang der 1990er ab und zu mit Straßenbahn durch diese Gegend gefahren, zum Metzger nach Borbeck. Die Gegend sah aus wie die Landschaften in den Katastrophen-Filmen, die ich als Kind merkwürdigerweise schauen durfte, zum Beispiel die ausgestorbenen Wüstenstädtchen in “Andromeda”. Kein Mensch zu sehen, kaum Autos, große leere, manchmal asphaltierte Flächen und hier und dort ein Ziegelbau oder ein Gewerbe-Funktionskasten, eine Ruine, dazwischen Gestrüpp und alte Bahngleise, die irgendwo im Gelände abrupt enden.

Die Kruppstadt war ein aus der Zeit gefallener Ort.

Das war 1999 immer noch so, da fraßen sich aber an den Rändern schon langsam neue Gebäude ins Brachland hinein: IKEA, Autohändler, der Gewerbepark M1 (interessante Fotos in der Projektbeschreibung).

1999, als Florian Sander im Brachland fotografierte, ging das alles gerade los.

Ich habe damals zu Florians Fotos diesen Text für ein Stadtmagazin geschrieben:

Die Stufen sind kaum vom Innenhof an der Alterdorfer Straße zu erkennen. Ganz hinten im Halbdunkel, von Efeu überwuchert führen sie hinauf zum alten Bahndamm der früheren Kruppschen Ringbahn. Moos wächst auf dem feuchten Mauerwerk an den Seiten des Aufgangs. Der rote Ziegelstein bröckelt. unterm Efeu rostet das verschnörkelte Geländer. Oben, vom Bahndamm aus sieht man im Nordwesten den Real-Markt. Rostig-rote Schienen spannen sich nach Norden über die Altendorfer Straße in Richtung der Krupp-Verwaltung und der ehemaligen Zeche Helene.

Die Schienen der Ringbahn führen durch ein Stück Essener Vergangenheit. Die Bohlen sind morsch und rutschig, an den Seiten der alten Bahnstrecke wuchern dornige Ranken, rechts glänzt eine silbrige Rohrleitung mit  mindestens einem Meter Durchmesser. Links die ersten Ruinen. Ein löchrig es Betondach, darunter ein metertiefes dunkles Erdloch. Rostige Eisenstäbe ragen aus dem Beton, ein Zementklumpen hängt an Stahlstreben herab.

Viel ist nicht übrig geblieben von 1195 Schmelzöfen, 370 Dampf- um 1724 Werkzeugmaschinen. Ein Großteil der ehemaligen Kruppstadt ist heute Brachland: Beton, Eisen, Rost und Dickicht. Auf 300 Hektar zwischen Innenstadt, Frohnhausen, Altendorf und Bergeborbeck arbeiteten bis zur Jahrhundertmitte zwischenzeitlich 140.000 Kruppianer. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die Industriedemontage durch die Alliierten hinterließen ein Brache.

Einige der alten Hallen werden immer noch genutzt. An der Frohnhauser Straße von den Krupp Druckereibetrieben. Zwischen meterhohem Ziegelsteinmauern kann man erahnen, wie gewaltig die Industrie hier irgendwann einmal gewirkt haben muss.

Bald sind auch die letzten Spuren verschwunden. Im besten Fall werden die alten Hallen restauriert und neu genutzt – die achte mechanische Werkstatt als Musicalpalast, die Kruppsche Fabrikhalle gegenüber als Parkhaus. Meistens aber kommen die Ruinen weg und funktionale Neubauten aufs Brachland. Auf den Trümmern alter Industrieanlagen stehen Stinnes Baumarkt, McDonalds, das Gewerbegebiet Ml, Möbel Krüger und IKEA. Möbelstadt statt Kruppstadt.

2011

Inzwischen hat die ThyssenKrupp AG ihren neuen Firmensitz in dieses ehemalige Brachland gebaut, 2010 zog die Verwaltung von Düsseldorf hierher. Es gibt einen 23 Hektar großen Park, einen See mit Bühne und sogar einen Boulevard (derzeit ohne Flaneure, führt ja nur zu Büros).

Dass es hier 2011 so aussehen wird, habe ich nie erwartet.

Blog

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
Immer gut: Newsletter abonnieren


auch interessant

Wenn Gott geht, bleibt das Geld

These: Die verbreitete und emotionale Ablehnung von Erbschaftssteuern hängt damit zusammen, dass es a) das Tabuthema Endlichkeit und Tod trifft und b) in der Makroperspektive mangels Glauben und Religiosität für viele eine befriedigende Antwort auf das danach fehlt.  Deshalb ist das Vererben der Weg zur Unsterblichkeit. Wer keinen Bezug zu

Wenn Gott geht, bleibt das Geld

Fun Facts: Vermeer, Jira, Rubens

Vermeer verkaufte die meisten Bilder an seine Nachbarn Klar, das Mädchen mit dem Perlenohrring! Hier etwas unnützes, weniger verbreitetes Wissen: Johannes Vermeer hat zeitlebens vielleicht 50 Bilder gemalt, 37 davon sind bis heute erhalten und 21 Gemälde hat er an seine Nachbarn in Delft verkauft, an Maria Simonsdr de Knuijt

Fun Facts: Vermeer, Jira, Rubens

ChatGPT sagt Unternehmensgewinne besser voraus als Analysten

Drei Forscher der University of Chicago haben mit eigenen Prompts GPT4-Turbo die Bilanzen und Erfolgsrechnungen von 15,401 US-Unternehmen zwischen 1968 und 2021 analysiert. Die Daten waren ... * pseudonymisiert (keine Firmennamen) * standardisiert (die Bilanzdaten liegen für jedes Unternehmen im gleichen Standardformat vor) * und um Jahreszahlen bereinigt (aus 2021 wird z.B.

ChatGPT sagt Unternehmensgewinne besser voraus als Analysten