Talwaerts zeigt, wie ein gutes lokales Wochenmagazin aussieht
Gut ein halbes Jahr nach dem Start des lokalen Wochenmagazins Talwaerts in Wuppertal habe ich nun endlich bei einem Besuch eine Ausgabe ergattert. Das war viel einfacher als beim gescheiterten Versuch im Sommer (da kannten die im Kiosk es nicht mal). Ich fragte in der Innenstadt am nächstbesten Cola&Kaffee-Büdchen zaghaft, ob man denn vielleicht Talwaerts habe. Aber sicher!
Liebevoll erzählte und fotografierte Geschichten
Dieses von engagierten Bürgern gegründete Wochenmagazin ist für mich der Prototyp einer neuen Art von Lokaljournalismus. Ich habe die 16-seitige Ausgabe mit großem Vergnügen in einer Stunde durchgelesen. Das Tolle an dem Heft für mich: keine Nachrichten (mit Ausnahme einer verschämten Meldungsspalte, die für mich nach Lückenfüller aussieht). Statt diesem Grundrauschen, das mich bei tagesaktuellen Lokalmedien abschreckt, stehen in Talwaerts nur wirklich interessante, relevante, groß und liebevoll erzählte und fotografierte Stücke.
Sieben große Geschichten hat die aktuellen Ausgabe, fünf davon drehen sich um interessante Menschen aus Wuppertal. Es braucht sich nicht jeden szenischen Einstieg in diesem Heft und aus einigen Texte hätte man noch mehr herausfeilen können. Aber das sind Lappalien, denn mir ist die Haltung und die Sicht dieses Hefts sympathisch: Zuhören, genau hinschauen, Interessantes interessant erzählen. Ich bin kein Wuppertaler, aber die Porträts der beiden Kandidaten der großen Parteien für die Oberbürgermeisterwahl habe ich gerne gelesen, genauso die Geschichte über einen Wuppertaler Musiker, der Kunst studiert, Fotografie gelernt hat und als Polizeifotograf arbeitet oder das Gespräch über die RAF und die 80er zwischen Wuppertalern, die damals als Polizist und als Demonstranten auf der Straße waren.
Nebenbei habe ich auf den 16 Seiten gelernt, dass Karl Nagel ein wichtiger Teil der Wuppertaler Hausbesetzerszene in den 80ern war und dass Wuppertal den Abriss alter Theater für den autogerechten Umbau der Innenstadt in den Fünfzigern einem Mann verdankte, der ein paar Jahre zuvor Hermann Görings Privatanwesen Carinhall gebaut hatte.
Das Magazin ist voller schöner Ideen, die Heimatpause zum Beispiel, eine Seite mit Geschichten, die außerhalb Wuppertals spielen. Ich wünsche mir etwas mehr Analyse in der Mischung. Zum Beispiel eine Gegenüberstellung, wie denn die Kandidaten fürs Bürgermeisteramt nun die fünf größten Herausforderungen in Wuppertal angehen wollen. Oder eine Geschichte darüber, warum der nun wirklich nicht überraschende Bahnhofsumbau zu einem derartigen Chaos führt. Karten, Zahlen, Termine, Ablauf, Alternativen, Erfahrungen in anderen Städten mit ähnlichen Projekten (Essen zum Beispiel) usw..
Online fehlt: Archiv & Community
Aber vielleicht gab es eine solche Geschichte aus schon, ich kann mangels Archiv leider nicht danach suchen. Das ist einer der Nachteile bei dem Papier-first-and-only-Konzept von Talwaerts. So sympathisch mir klare, einfache Konzepte sind: Etwas online wäre toll. Und wenn es nur ein Archiv der PDF-Ausgaben mit Volltextsuche für die Abonnenten ist. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass die Talwaerts-Geschichten online wie de Correspondent funktionieren. Längere Halbwertszeit, angeregte Diskussionen, Verweise auf Passendes im Archiv, Themen dossiers mit Leserbeiträgen, Kuratierung und Verschlagwortung durch die Leser. Und noch etwas verpasst Talwaerts meiner Meinung nach online: Das Publikum eines so erfrischend intelligenten Heftes in einer Stadt mit so vielen aktiven Menschen dürfte diskussionsfreudig und interessiert am Vernetzen mit Gleichgesinnten sein. Um die interessanten Geschichten aus Wuppertal könnte eine außergewöhnliche Community entstehen.
Wie auch immer: Das Konzept lokales Wochenmagazin habe ich noch nirgends so konsequent exekutiert gesehen wie bei Talwaerts. Gäbe es so ein Heft in Essen und Düsseldorf: Ich würde Sie abonnieren – gedruckt oder digital. Lieber einmal die Woche relevante und mit Liebe präsentierte Geschichten als jeden Tag Rauschen.
Bonus: der Bahnhof