Niemand kann das Grauen nachempfinden
Krupp, Zwangsarbeit und KZ – Eine Fotoausstellung dokumentiert das Leben des Essener Arbeiterkämpfers Theo Gaudig
taz-Ruhr, 21.01.1999
Den Prozeß seines Freundes wollte Theo Gaudig nicht verpassen. Sie hatten sich in der KPD kennengelernt, zusammen Plakate geklebt und Demonstrationen organisiert. Jetzt war er wegen illegaler politischer Arbeit angeklagt. Doch der Vorarbeiter gab Gaudig keinen Urlaub, weil "es eine politische Sache ist" – 1924 war das möglich. Gaudig sagte: "Dann geh' ich eben ohne Urlaub", tat es und war am nächsten Tag arbeitslos. Die "politische Sache" war ihm wichtiger als sein Job.
15 Jahre Zwangsarbeit und KZ mußte Gaudig für seine kommunistische Überzeugung und seinen Einsatz im Arbeiterkampf ertragen. Für die sozialistische Idee kämpfte er immer, denn die Not der Arbeiter hatte er selbst erlebt. 1904 wurde er als drittes Kind einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie in Essen geboren. Das magere Gehalt des Vaters machte eine Schulausbildung für alle fünf Kinder unmöglich. Mit 14 Jahren mußte Gaudig sich eine Lehrstelle suchen.
Schon bald betätigte er sich in der kommunistischen Jugend. 1923 wurde er wegen Klebens von antimilitaristischen Plakaten zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Später setzte er seinen Kampf mit der Kamera fort. Mit seinen Fotografien für kommunistische Zeitungen wollte er "die Ausbeutung darstellen", wie er sagt.
Die Ausbeutung erfuhr Gaudig am eigenen Leib. Krupp beschäftigte ihn nur bei guter Auftragslage, so das er oft über Tage, über Wochen arbeitslos war. "So schlecht wie ich wurden alle Arbeiter behandelt, es war nichts besonderes", sagt er.
Als Gaudig 1928 wie viele andere infolge der Weltwirtschaftskrise arbeitslos wurde, erhielt er das Angebot, in einem Fotoladen in Bukarest zu arbeiten. Aus schierer Not nahm er das Angebot an, begann Rumänisch zu lernen und wanderte aus. "Ich habe Armut bei uns kennengelernt, aber in Rumänien war es ein Grad schlimmer", sagt er. Schon bald engagierte er sich in der dortigen Arbeiterbewegung. 1930 wurde er verhaftet und zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Seine langjährige Freundin Maria befand sich gerade auf dem Weg zu ihm, die Hochzeit war schon geplant. 15 Jahre Zwangsarbeit vor Augen schrieb Gaudig ihr: "Mein Leben ist versaut, versau Deines nicht auch." Doch Maria wartete, bis 1945 die Hochzeit stattfand. "Sie hat mir ihre Jugend geopfert. Jetzt ist sie seit acht Jahren tot", sagt Gaudig mit bewegter Stimme und nimmt einen der jetzt vergilbten Briefe in die Hand, die er ihr aus der Haft schrieb.
Zwölf Jahre war Gaudig in rumänischer Gefangenschaft. Davon ein Jahr in Dunkelhaft und zwei Jahre in unterirdischen Bunkeranlagen. "Die hygienischen Bedingungen sind unbeschreibbar", sagt er, "und vor allem gab es nichts zu essen." "Und doch war der seelische Druck nicht so groß wie im KZ", fährt er fort. "Ich habe Zeiten in Rumänien erlebt, die mit deutscher Haft nicht vergleichbar sind."
Über die Situation in Deutschland war Gaudig durch neue Häftlinge informiert: "Ich habe mir keine Illusionen gemacht. Ich wußte, daß mich in Deutschland wegen meiner Vergangenheit das KZ erwartete, und was das bedeutete." 1942 wurde Gaudig den deutschen Besatzern übergeben, und ins KZ Buchenwald gebracht.
"Das Grauen kann keiner empfinden, der nicht dort gewesen ist", sagt er und versucht es doch in Worte zu fassen: "Allein der Hunger. Man wurde verrückt vor Hunger. Man dachte daran, den Mitgefangenen das Brot zu stehlen – selbst dem besten Freund. Und die Toten, die man im Dreck liegen sah. Nach einiger Zeit gewöhnte man sich daran, und dachte: ‚Das ist mein Weg'".
"Einmal stand mir der Tod besonders nahe", erinnert sich Gaudig. Man hatte einen Mitgefangenen verhaftet, der mit ihm in der illegalen Häftlingsorganisation tätig war. Tagelang fürchtete Gaudig um sein Leben, denn es war klar, daß die SS durch Folter alles aus dem Gefangenen herauspressen würde. Dann kam die Nachricht, daß er sich in seiner Zelle erhängt hatte, ohne etwas zu verraten. "Manchmal möchte ich in der Zeit zurückgehen, um ihm wenigstens die Augen zuzudrücken", sagt Gaudig mit zitternder Stimme, schluckt und fährt sich über die Augen.
Nach der Befreiung Buchenwalds erwartete ihn ein Leben, das ihm in 15 Jahren Haft fremd geworden war. Er fand eine Anstellung als Hilfsarbeiter bei der Bahn. "Wie ich da in den ersten Wochen geschwitzt habe, kann sich niemand vorstellen. Ich kannte doch kein Geld mehr", sagt er. Der Eintritt in die Beamtenlaufbahn blieb ihm verwehrt, da er zu alt war. Die jungen Kollegen wurden bald seine Vorgesetzen. Doch darüber empfindet er keine Bitterkeit: "Ich habe nie auf der Sonnenseite des Lebens gestanden, und jetzt geht es mir sogar verhältnismäßig gut."An die sozialistische Idee glaubt Gaudig: "Ich zweifle an den Menschen, nicht an der Idee. Die Arbeitslosigkeit, die Armut in der Dritten Welt, der Krieg sind Dinge, die ich nicht akzeptieren kann. Doch ich werde das wohl nicht mehr ändern." Aber versuchen würde er es sicher gerne.