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Wer das Netz verstehen will, muss Geschichte lesen

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen
Wer das Netz verstehen will, muss Geschichte lesen

Vor 20 Jahren begann die Erfolgsgeschichte des World Wide Web – aber ist das Netz wirklich offen und frei? Ein Vergleich zeigt: Fünf Online-Giganten teilen das Web heute mit denselben Methoden unter sich auf, wie es Großkonzerne in den 1920er Jahren mit Radio und Telefon taten.

Spiegel Online, 18.7.2011

Das WWW hat Geburtstag: Vor knapp 20 Jahren, am 6. August 1991, gab der Internetpionier Tim Berners-Lee das World Wide Web zur allgemeinen, weltweiten Benutzung frei – er lud in einem Online-Forum im Usenet die Netzöffentlichkeit zum Besuch des ersten WWW-Servers ein. Bei fast jeder Diskussion über Zukunft und Gegenwart der Online-Kommunikation fällt seither mit Sicherheit dieser Vorwurf: Da hat doch jemand das Internet nicht verstanden! Gemeint sind oft Politiker, die bestimmte Websites oder gleich den gesamten Netzverkehr regulieren wollen. Oder auch die Hamburger Rap-Band Fettes Brot, weil das Video eines ihrer Coversongs bei YouTube entfernt wurde. Oder Ebay: Das Auktionsportal habe – das schrieb ein Kritiker im Jahr 2000 – das Netz nicht verstanden, weil die Firma Transaktionsgebühren für Auktionen verlangt. Der Autor sagte Ebay damals den baldigen Untergang voraus.

Klingt kurios – doch auffällig an dem Netzignoranten-Vorwurf ist, dass die Kritiker dabei selten eine Definition dessen geben, was die Geschmähten angeblich nicht verstanden haben. Wie auch? Heute ist das Web schon etwas völlig anderes als das WWW im Jahr 2008 – der Zeit, bevor Facebook zur Infrastruktur wurde.

Dennoch sprechen Netz-Versteher nach wie vor oft und ohne jeden Zweifel von demNetz, ohne den Begriff zeitlich, demografisch oder technisch einzugrenzen. Würde man eine solche Eingrenzung versuchen, wäre nämlich schnell klar: Gemeint ist mit demNetz selten ein tatsächlicher Zustand, sondern meist eine vage Vorstellung davon, wie das Netz beschaffen sein sollte: irgendwie offen und schwach reguliert – diese Prinzipien werden aber selten weiter begründet.

Netzversteher halten ihre Wünsche für Naturgesetze

Die nicht weiter reflektierte Überzeugung, das Netz habe einen bestimmten, sozusagen natürlichen offenen Zustand, den man begreifen und bewahren müsse, hat einen sehr unangenehmen Nebeneffekt: Wer davon ausgeht, dass die Online-Welt immer so war, immer so sein wird und auf jeden Fall so sein muss, wie er sie sich das wünscht, entwickelt kaum Demut vor der Unwägbarkeit der Geschichte.

Der US-Jurist Tim Wu beschreibt in seinem Buch “The Master Switch” sehr anschaulich, wie schnell wirtschaftliche und politische Interessen die Wirkung neuer Kommunikationsräume verändern. Wu erzählt, wie das Radio in den Vereinigten Staaten anfangs ein wenig reguliertes Jedermann-Medium war. Privatleute, Interessengruppen, Gewerkschaften und Vereine sendeten Lokalprogramme oft nur wenige Stunden in der Woche. Dieses vielfältige Angebot der Amateure blühte, weil anfangs das Radio-Geschäftsmodell der Verkauf der Empfangsgeräte war. Niemand wollte Werbung.

Doch dann lief im Jahr 1922 der erste Radiospot, und bald war klar: Der Verkauf von Reklame bringt mehr Geld als der Verkauf von Radios. Es entstanden große Radioprogrammanbieter, die überregional auftraten, um kontinuierlich möglichst viel Aufmerksamkeit zu binden – die Voraussetzung für hohe Werbeerlöse. Die US-Regulierungsbehörde begünstigte bei der Frequenzvergabe große kommerzielle Sender und verfuhr beim Fernsehen später ganz ähnlich. So verschwand aufgrund ökonomischer Interessen und politischer Entscheidungen das Sammelsurium offener Kanäle. Abgelöst wurde es von dem konzentrierten US-Rundfunksystem, wie wir es heute kennen. Die Radioriesen NBC und CBS sind heute noch mächtige Medienkonzerne.

Man kann das Netz nicht verstehen, nur Interessen erahnen

Heute erscheint es lächerlich zu urteilen, jemand habe in den zwanziger Jahren die Natur des Radios nicht verstanden. Wer soll da rückblickend als Ignorant gelten? Werbeverächter, die anfangs Radio-Hardware für das lukrativere Geschäft hielten? Oder Gewerkschaften, die Radio-Programme machten? Oder die Regulierer? All diese Parteien hatten unterschiedliche Ideen, wie Rundfunk funktionieren sollte. Wie sich das Medium und das Mediensystem dann verändert haben, wurde bestimmt durch wirtschaftliche und politische Interessen. Kommunikationsräume werden gestaltet, sie sind nicht naturgegeben. Man kann gar nicht das Netz verstehen, sondern nur Interessen erahnen, die es gerade formen.

Dabei hilft eine Technikgeschichte, wie Wu sie geschrieben hat. Geschichte wiederholt sich zwar nicht, doch Konstellationen tauchen manchmal wieder auf. Man kann zum Beispiel die extrem polyzentrische, auf Mailboxen und erste Foren im Internet verteilte Anfangszeit der Online-Privatnutzung mit der des Radios vergleichen.

Prognose von 1994: Hobby-Mailboxen halten den Web-Kommerz klein

Ein alter Text über Mailboxen transportiert den damaligen Zeitgeist sehr gut: Die Mailboxstruktur werde “in ein paar Jahren zum festen Kommunikationsstandard gehören”, schrieb Matthias Lange Anfang 1995 und prophezeite: “Viele spezialisierte freie Netze und experimentelle Projekte sind bereits entstanden und werden noch stärker entstehen.” Eine ernsthafte Bedrohung durch kommerzielle Angebote wie Compuserve, Datex-J oder das geplante Microsoft-Netz sah der Autor nicht: “Die selbstregulierenden Kräfte der freien Mailboxen sind so groß, dass man den starren Gebilden der kommerziellen Anbieter bezüglich schneller und aktueller Kommunikation und Information allemal bei Weitem überlegen ist.”

16 Jahre später sind Mailboxen ein Nischenphänomen, Projekte wie De Digitale Stad in Amsterdam verschwanden um die Jahrtausendwende. Wie beim Radio hat die Entdeckung von Werbung als einträglichstes Geschäftsmodell im Netz zu Konzentration geführt. Geschlossene Dienste wie Compuserve haben tatsächlich nicht überlebt. Überholt wurden sie von Anbietern, die das Web mit kostenlosen und teil-offenen Angeboten für sich nutzen. Ein Beispiel: Google ist offen für fast alle Seiten im Web und saugt das Netz regelrecht in seinen Kosmos hinein – doch den Zugriff auf dieses Wissen übers Netz macht Google exklusiv zu Geld.

Der Siegeszug der Web-Riesen

Laut dem Statistikdienstleister Comscore haben die US-Internetnutzer im Dezember 2010 gut 41 Prozent ihrer Online-Zeit auf den Web-Angeboten der fünf größten Anbieter Facebook, Google, Microsoft, Yahoo und AOL verbracht. Ein Jahr zuvor lag der Anteil noch bei etwa 37 Prozent der Online-Zeit.

Wer Wus Technikgeschichte gelesen hat, dem kommt manches Verhalten der großen Netz-Konzerne bekannt vor. Die Strategie der eigennützigen Offenheit zum Beispiel: Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts lockte die American Telephone and Telegraph Corporation (AT&T) mit recht günstigen Kooperationsangeboten kleine, lokale Anbieter, ihr Netz an das von AT&T anzuschließen. Sobald die Kleinen von der Infrastruktur des Riesen abhängig waren, veränderte AT&T die Bedingungen zu seinen Gunsten, übernahm einige der ehemaligen Konkurrenten und drängte andere vom Markt. Manche Programmierer, die auf Twitters anfangs sehr offene Infrastruktur setzten, dürften in dieser Geschichte Parallelen zu heute erkennen.

Auffällig ist derzeit, wie die Netz-Konzerne in fast alle Bereiche drängen: Mobilfunk, Musikverkauf, E-Books, soziale Netzwerke, Unterhaltungselektronik – fast alle Web-Riesen wollen fast alles machen und daran verdienen. So war es auch in den 1920er Jahren, als Telefonkonzerne das neue Rundfunkgeschäft übernehmen wollten. Auch damals kauften Großkonzerne wie AT&T Patente auf, um sich in Abwehrschlachten gegen kleine und große Konkurrenten durchzusetzen.

Das Netz trägt keinen Bauplan für die kommenden Jahrzehnte in sich

Und dann gibt es noch die verlockenden Angebote, die Konzerne wie AT&T einst der Politik machten. Sie argumentierten so: Wenn man sie nur gewähren und mächtig genug bleiben ließe, könnten sie dem Staat nützliche Dienste erweisen – das Land vernetzen, das Radioprogramm politisch ausgewogen gestalten, die Filme sauber halten. Und heute? Viele Leute reden von der “Facebook-Revolution”, der US-Präsident beantwortet auf Facebook Fragen der Nutzer. Es macht den Eindruck, als sei das alles der Firma ziemlich recht.

Ihre Sprüche über die schöne neue Welt, in der alle von Quasi-Monopolen profitieren, können die Manager heutiger Informationsriesen getrost aus den 1920er Jahren übernehmen. Der AT&T-Chef Theodore Vail sprach damals davon, sein Unternehmen wolle ein “universelles Kabelnetz für die Übermittlung von Informationen von jedermann an jeden Ort in jeder anderen Stadt” bauen. Facebook-Managerin Sheryl Sandberg sagt heute, die Mission ihre Firma sei es, “die Welt zu vernetzen”.

Ob solche Vorhaben zu mehr Vielfalt oder zu innovationshemmenden Monopolen führen – das hängt nicht von der Technik ab, die genutzt und entwickelt wird. Das Netz trägt keinen Bauplan in sich, man kann mit denselben Protokollen, Routern und Switches ein China-Intranet oder ein Wiki betreiben.

Wie das Netz in 20 Jahren aussehen wird, hängt von der technischen Entwicklung so sehr ab wie von Politik, Investoren, Regulierung, Wählern und Nutzern. Um das Netz zu gestalten, muss man aber erst einmal die Idee aufgeben, es sei etwas Gegebenes.

Beitragsbild: Bell telephone magazine, 1922, gemeinfrei

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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