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25 Jahre Hypercard: Wie Apple beinahe das Web erfand (Spiegel Online, 2.6.2012)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

25 Jahre Hypercard

Wie Apple beinahe das Web erfand

Es hätte der erste Web-Browser werden können: 1987 stellte Apple ein Programm namens Hypercard vor. Damit konnten sich Nutzer durch Bilder und Klänge klicken und Musikrezensionen lesen. Doch das Programm setzte sich nicht durch – seine Macher begingen zwei große Fehler.

Spiegel Online, 2.6.2012

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Es war im August 1987, als Apple auf der Macworld Expo in Boston ein Programm namens Hypercard präsentierte. Damit konnten Nutzer ohne Programmierkenntnisse Texte und Grafiken miteinander verknüpfen, in einem Artikel auf einen Absatz in einem anderen verlinken, einen Index mit Schlagworten verfassen oder alle Texte in einer Sammlung nach bestimmten Begriffen durchsuchen. Das klingt heute, 25 Jahre später, nicht gerade spektakulär. Links? Volltextsuche? Interaktion? Das gibt es zwar alles im World Wide Web – allerdings erst, seit Tim Berners-Lee im Jahr 1990 den ersten Browser schrieb.

Als Hypertext-Browser wurde Apples Hypercard-Programm von Anfang an wahrgenommen. In einem der ersten Berichte vom 11. August 1987 beschreibt der Autor Danny Goodman Hypercard so: “Es ist keine Datenbank, sondern ein Werkzeug zum Durchstöbern von Informationen”, im Original heißt es “informational browsing tool”.

Nutzer klickten sich durch Texte, Fotos, Klänge – so funktionierten Hypercard-Werke: Auf CD-Rom erschien eine Hypercard-Ausgabe des “Whole Earth Catalog”, dem Evangelium einer technikbegeisterten US-Gegenkultur.

Hypercard statt Website

Das Werk enthielt 2500 Artikel, 4000 Fotos, 2000 Textauszüge aus Büchern und 500 Sounddateien – vor allem Songsauszüge in Musikrezensionen, aber auch Vogelstimmen. Im Hypercard-Format erschienen die ersten Adventure der Brüder Rand und Robyn Miller, “The Manhole” und “Cosmic Osmo”. Und auch ihr legendäres Werk “Myst” erschien zuerst als riesiges Hypercard-Werk mit eingebundenen Quicktime-Videos, die von CD-Rom abgespielt wurden.

Hypercard war weit genug verbreitet, um als Basis für kommerzielle Anwendungen zu dienen, weil Apple ab 1987 den Hypertext-Browser kostenlos mit allen neuen Macs auslieferte – für 50 Dollar konnte man die Software nachkaufen. Mit dieser ersten Version konnte man auch selbst Hypertexte erstellen, Apple verkaufte erst später die Gestaltungssoftware extra, parallel zum weiterhin kostenlosen Hypercard-Browser.

Viele Apple-Nutzer ohne Programmiererfahrung nutzen Hypercard, um Werke zu publizieren, die man heute ins Web stellen würde. Der kanadische Gestalter Kevin Steele beschreibt, wie er und sein Kollege David Groff 1989 eine Hypercard-Publikation entwarfen, um für die eigene Agentur zu werben: In automatisch ablaufenden Fotostrecken zeigten sie Arbeitsproben, sie stellten sich vor und präsentierten Wissenwertes über Makrelen – schließlich hieß ihre Agentur Mackarel. Sie gaben das Werk auf Disketten weiter, später konnte man es in Mailboxen herunterladen.

Das Matthäus-Evangelium als Hypertext

Zur selben Zeit entdeckte in Deutschland Pastor Hanns-Johann Ehlen Hypercard. Der inzwischen pensionierte Geistliche arbeitete seit 1984 an einem Mac, die 128 KB Speicher hatte er auf 1024 aufgerüstet. Als Hypercard auf den Markt kam, war Ehlen gerade auf einen Mac II umgestiegen. Er hatte schon auf dem ersten Mac das Matthäus-Evangelium eingetippt, um den Text digital verfügbar zu haben. Ehlen experimentierte mit Hypercard: Er setzte das Matthäus-Evangelium als Hypertext um und gab dieses Werk zum Vertrieb auf Public-Domain-CD-Roms des MACup-Verlages frei.

Viele Nutzer waren begeistert und ermunterten den Pastor, den kompletten Bibeltext als Hypercard-Werk herauszugeben. Mit Hilfe anderer Mac-Enthusiasten stellte Ehlen 1989 die Hypercard-Bibel fertig, 1992 erschien eine Hypercard-Studienbibel auf CD-Rom. Pastor Ehlen hat mit Hypercard-Bibel, Gesangbuch und Gottdienstbuch bis zu seiner Pensionierung 2010 gearbeitet – zuletzt auf einem Powerbook G4, auf dem das alte Mac OS 9.2.2. noch lief, das zur Anzeige der Hypercard-Werke nötig war.

Apple hat die letzte Version von Hypercard 1998 veröffentlicht, 2004 verschwand die Hypercard-Site von Apples Webpräsenz. Gescheitert ist Hypercard an zwei großen Fehlern, erzählt Bill Atkinson, der für die Entwicklung bei Apple verantwortlich war und heute als Naturfotograf arbeitet. Der erste Fehler, so Atkinson 2002: “Wäre ich in einer Netzwerk-Kultur wie bei Sun groß geworden, hätte Hypercard der erste Web-Browser werden können. Ich glaubte nicht, dass jeder Rechner mit jedem verbunden sein wird.” Der zweite Fehler, so Atkinson, sei Apples Entscheidung gewesen, die Gestaltungssoftware extra für 400 Dollar zu verkaufen: “Das war das Todesurteil.”

Hypercard war wie das WWW eine Umsetzung der Hypertext-Idee, die schon in den sechziger Jahren Visionäre wie Ted Nelson formulierten. Warum nutzt heute jeder das WWW und kaum jemand Hypercard? Der WWW-Erfinder Tim Berners-Lee formulierte 1989 einen entscheidenden Grundsatz: “Die Informationen speichernde Software muss von der Darstellungs-Software getrennt werden, die Schnittstelle muss klar definiert sein.” Hypercard war ein Offline-Wissensnetz, es basierte auf einem geschlossenen Datenbank-Standard, war nur für bestimmte Betriebssysteme verfügbar. Berners-Lees WWW hingegen basiert auf einer Auszeichnungssprache – die Darstellung kann auf jedem Computersystem ein anders Programm übernehmen, das HTML interpretiert. Und dank einheitlicher Adressierung ist jedes Dokument im Web von jedem Zugangspunkt aus abrufbar.

Und so war Hypercard schon wenige Jahre nach der Veröffentlichung überholt. Die US-Kongressbibliothek stellte die Hypertext-Präsentation ihrer Sammlung “American Memory” 1994 von Hypercard auf das WWW um.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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