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Wie Putin die Lomo-Fotokunst rettete

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen
Wie Putin die Lomo-Fotokunst rettete

Die beste und billigste Automatikkamera der Welt – nicht weniger verlangte der sowjetische Vize-Verteidigungsminister von seinen Ingenieuren. Ergebnis: 1984 ging die Kompaktkamera Lomo LC-A in Produktion. Sie überlebte die Sowjetunion und begeistert heute Millionen Analog-Knipser weltweit.

Spiegel Online, 9.8.2009

Wien – Das war der wohl härteste Job für Ingenieur Mikhail Kholomyansky: Der 41-jährige Entwicklungschef der Sankt Petersburger Optik-Fabrik Lomo musste 1982 in wenigen Monaten die Traumkamera des Vize-Verteidigungsministers konstruieren. Igor Kornitsky hatte auf der Fotomesse Photokina in Köln die japanische Kompaktkamera Cosina CX-2 gesehen und von den sowjetischen Ingenieuren verlangt: “Ich will eine Kamera wie diese. Einfach, leicht zu bedienen, funktional, vollautomatisch. Die Japaner verstehen etwas davon, aber unser Ziel ist es, eine noch bessere und billigere russische Kamera für die gesamte kommunistische Welt zu bauen!”

Ob die 1984 in Serienproduktion gegangene LC-A diese Superlative erfüllte, sei einmal dahingestellt. Fest steht: Die sowjetische Kopie der Cosina hat überlebt. 25 Jahre, nachdem die Lomo LC-A in Produktion ging, fotografieren heute Millionen Menschen mit der Lomo-Kompaktkamera. Ein österreichisches Unternehmen – die Lomographische AG – vertreibt seit Jahren neue Analog-Kameras nach Bauart der LC-A und anderer Sowjet-Knipsen. Die Umsätze mit den hippen Analogknipsen stiegen 2007 und 2008 deutlich zweistellig, 16 Millionen Euro erwarten die Kamera-Verkäufer 2009.

Nach 25 Jahren ist die LC-A so wieder dort gelandet, wo alles begann: in der Edelnische. Denn als die LC-A auf den Markt kam, war die kompakte Automatikkamera ganz sicher keine Volksknipse. Aus 450 Einzelteilen wurde eine LC-A zusammengebaut, in der Serienproduktion in Sankt Petersburg schafften 500 Arbeiter am Fließband 1100 LC-As im Monat. Der Preis war entsprechend hoch: 75 Rubel kostete die LC-A – Sowjetbürger verdienten im Durchschnitt 175 Rubel monatlich. Die LC-A war ein Prestige-Projekt: Zum 27. Parteitag der KPdSU 1986 bekam jeder der 5000 Delegierten ein LC-A-Sondermodell mit rotem Logo.

Als die Sowjetunion aufgelöst wurde, brach die Lomo-Nachfrage ein. Wer reich war, kaufte sich japanische Kameras. Wer nicht reich war, konnte nicht daran denken, auch nur eine Sowjet-Knipse zu kaufen. 1994 arbeiteten bei den Lomo-Werken nur noch 30 Leute an der LC-A.

Da kamen die Wiener Studenten Wolfgang Stranzinger (Jura), Matthias Fiegl (BWL) und Christoph Hofinger (Germanistik). Die drei hatten nach der Wende auf einem Prager Flohmarkt eine gebrauchte LC-A gekauft. Sie entdeckten später begeistert, welch schöne Verfremdungseffekte die Linse der Kamera erzeugt.

Die drei wohnten in einer Studenten-WG im dritten Bezirk Wiens. Die Fotos ihrer Sowjet-Knipse ließen sie vom Drogeriemarkt nebenan billig entwickeln, bald hing die WG-Pinnwand voller bunter Lomo-Schnappschüsse. WG-Mitbewohner begeisterten Kommilitonen von der Hochschule für angewandte Kunst für die Kamera. Viele wollten eine LC-A kaufen. Stranzinger, Fiegl und Hofinger trieben im Osten gebrauchte LC-As auf und verkauften sie in Wien.

Ausstellung, Hype, GmbH

Unbenannt

Im November 1992 gab es die erste Lomo-Ausstellung in Wien, Ausstellungen in New York und Moskau folgten, und die in ihrer Heimat wegen japanischer High-Tech-Kamera verschmähte Sowjet-Knipse wurde im Westen auf einmal hipp. Jurist Stranzinger meldete die Marke “Lomographie” an, trug mit Fiegl die Lomographische Gesellschaft als Verein ein. Die beiden Ex-Studenten waren Vorsitzende, 1995 gründeten sie die Lomographische GmbH, heute sitzen sie im Vorstand der Lomographischen AG.

Während des Lomo-Booms Mitte der neunziger Jahre war das größte Problem von Fiegl und Stranzinger erstaunlicherweise der Nachschub an neuen Kameras. Das Lomo-Werk hatte seine Probleme mit dem Kapitalismus – die Kameraproduktion war unrentabel, die Fixkosten für Maschinen und Personal zu hoch, um die Serienproduktion aufrecht zu erhalten.

1995 kaufen die Wiener 1000 Kameras im Monat

Die Wiener Lomo-Vermarkter bestellten zwar fleißig nach – bis zu 1000 Kameras monatlich kauften sie den Lomo-Werken 1995 ab. Das Problem war aber, dass die Lomo-Fabrik die neuen Geräte irgendwann nur noch aus Ersatzteilen zusammenschraubte und die Herstellung neuer Komponenten wegen zu hoher Kosten stoppte. Die Wiener Lomo-Vermarkter sollten mehr zahlen, viel mehr. Man konnte sich nicht auf einen Preis einigen, und so kam es im März 1996 zu dem legendären Krisentreffen in Sankt Petersburg. Beteiligte: Fiegl, Stranzinger, der Chef der Lomo-Fabrik Ilja Klebanov, der österreichische Honorarkonsul in Sankt Petersburg Tom Westfält und der Vizebürgermeister der Stadt – Wladimir Putin.

Eine Stunde lang sprachen die Lomo-Vermarkter mit Putin und erklärten ihm, wie sehr der Lomographie-Hype das Ansehen der Stadt international hebe. Im Lomo-Erinnerungsbuch zum 25-jährigen Jubiläum erinnern sich Fiegl und Stranzinger an einen “sehr gewinnenden, etwas zynischen” Auftritt Putins.

Er habe sich sehr für Lomographie interessiert, und am Ende waren alle Seiten einig, dass die “Produktion aufrecht erhalten werden müsse”. Wie auch immer der Deal zwischen der Stadt Sankt Petersburg und den Lomo-Werken aussah – die Firma kalkulierte die Preise der LC-A tatsächlich neu und kam zu einer Summe, die die Wiener Lomo-Vermarkter akzeptierten. Jahre später machte Präsident Putin Lomo-Chef Klebanov zu seinem Industrieminister.

2005 endet die Lomo-Produktion in Russland

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Die von der Wiener Lomographischen AG weltweit exklusiv vertriebene LC-A wurde dann noch bis 2005 in den Lomo-Werken in Sankt Petersburg hergestellt. Dann verlegten die Lomo-Vermarkter die Produktion nach China.

Das Unternehmen vermarktet die Analog-Knipsen seit Jahren sehr geschickt als kreatives Gegenstück zur allgegenwärtigen Digitalfotografie. Die Flut digitaler Schnappschüsse mit uniformer Ästhetik langweilt – die automatisierte Perfektion der modernen Kameras optimiert sämtliche Fotos auf eine als Ideal vorgegebene Bildnorm hin. Aus dieser Gleichförmigkeit stechen Analogaufnahmen mit sichtbarem Filmkorn und knalligen Farben heraus, wie die Einsendungen beim Foto-Wettbewerb von SPIEGEL ONLINE demonstrieren.

Das Umsatzwachstum (siehe Tabelle unten) der Lomographischen AG spiegelt die Nachfrage wieder. Laut Florian Moritz, Marketing-Leiter der Lomographischen Gesellschaft, macht das Unternehmen den “Großteil der Umsätze” mit Kameras: “Filme haben auch einen konstanten Anteil, der Umsatzanteil von Designzubehör wie Taschen wächst. Wir entwickeln in der Regel drei bis fünf neue Kameras im Jahr.”

Die Gründer und Eigentümer führen das Unternehmen noch immer. Die Lomographische AG beschäftigt 140 Mitarbeiter weltweit, 60 arbeiten in der Zentrale in Wien. Moritz: “Wir machen hier alles komplett selbst – Gestaltung und Redaktion unserer Bücher, Innenarchitektur der Shops, Webdesign, Entwicklung neuer Kameras, Marketing, Verwaltung.”

In den wichtigsten Märkten wie Japan, USA, Korea, China organisieren Tochterfirmen den Vertrieb und betreiben die Ladengeschäfte der Firma – die sogenannten Lomography Gallery Stores. Mittlerweile gibt es zehn dieser Läden in Metropolen wie Paris, Tokio, New York. Dort finden Ausstellungen und Workshops statt – die Lomo-Vermarkter bauen eine Offline-Community auf. Es gibt Partys und Veranstaltungen wie Doppeldecker-Bustouren durch New York für New Yorker, bei der Einwohner durch ihre Heimatstadt fahren und fotografieren.

Unbenannt

Laut Marktanalyse der Lomo-Vermarkter gibt es “weltweit knapp eine Million aktiver Community Mitglieder”. Das heißt: Menschen, mit denen die Lomographische Gesellschaft in einem der Läden oder Online-Shops mehr als einmal Kontakt hatte (Einkäufe, Workshops, Ausstellungen). Aber, so Moritz: “Es gibt sicher weit mehr Lomographen, wir haben über die Jahre vier bis fünf Millionen Kameras wie die Lomo LC-A, die Diana+ oder die Fisheye verkauft.”

Das ist alles sehr professionell gemacht, dennoch beteuert Marketing-Leiter Moritz: “Wir analysieren die Zielgruppen nicht perfekt, um Produkte für einen eng definierten Markt zu entwickeln. Wir machen tatsächlich Sachen, die uns gefallen. Es gibt in der Firma keinen, der nicht fotografiert.”

Das wird wohl stimmen – denn wie käme man sonst auf die Idee, Nachbauten sowjetischer Plastik-Knipsen zu verkaufen?

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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