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30 Jahre Usenet: Wo die Ureinwohner des Web-Dschungels hausen (Spiegel Online, 13.10.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

30 Jahre Usenet

Wo die Ureinwohner des Web-Dschungels hausen

Es wurde zur Wiege der Netze: Von Tim Berners-Lee über Linus Torvalds bis Jeff Bezos- in den Online-Foren des Usenets diskutierten die Netzpioniere die Entwicklungen, die heute das Web prägen. Vor 30 Jahren entwickelten drei Informatikstudenten das Usenet, weil sie sich einsam fühlten.

Spiegel Online, 13.10.2009

Die Stellenbeschreibung hat es in sich: “Sie sollen Erfahrung damit haben, große und komplexe, aber benutzbare Datenbanken aufzubauen. Und sie sollten das in etwa einem Drittel der Zeit schaffen, welche die meisten kompetenten Menschen für möglich halten.” So suchte Amazon-Boss Jeff Bezos vor 15 Jahre händeringend talentierte Programmierer, um “Handel im Internet zu etablieren”. Bezos schrieb am 22. August 1994 keine Anzeige, keinen Blogeintrag. Er stellte eine Nachricht in ein Forum des Usenets.


Dieser Internetdienst, den heute nur wenige Menschen kennen, ist älter als das World Wide Web. Vor 30 Jahren entwickelten Informatikstudenten das Usenet als eine Online-Mischung aus Schwarzem Brett und Diskussionsforum.

Die Usenet-Gruppen sind in thematischen Hierarchien aufgebaut, die sich immer weiter verästeln. So gibt es zum Beispiel im Freizeitbereich “rec” (Abkürzung für das englische “recreation”) den Unterordner Reise, darin dann Gruppen wie Europa und “budget.backpack”. Bezos schrieb den Amazon-Programmiererjob 1994 zum Beispiel in der Gruppe “mi.jobs” aus – einem Jobunterforum in der mi-Hierarchie, also allen Foren, die etwas mit dem US-Bundesstaat Michigan zu tun haben (mi). Die Usenet-Gruppen werden auf sogenannten News-Servern gespeichert und dann von anderen gespiegelt: In einem Abgleichprozess entstehen so “Mirrors” rund um den Globus. Die Nutzer müssen sich bei einem dieser Server anmelden, um auf die Usenet-Gruppen zuzugreifen – und Nachrichten zu lesen und zu schreiben. Heute nutzen die meisten Usenet-Anwender die Foren über einen Web-Zugang wie zum Beispiel Google Groups.

“Wir fühlten uns allein und isoliert”

Als das Usenet aber vor 30 Jahren entstand, gab es das World Wide Web noch nicht. Der Internetvorläufer Arpanet verband damals einige US-Universitäten. Die Informatikstudenten Jim Ellis und Tom Truscott an der Duke University in North Carolina hatten davon gehört, dass über dieses Forschungsnetz Informatiker in sogenannten Mailing-Listen diskutierten. Sie wollten einen ähnlichen Online-Dienst für ihre Universität programmieren: “Wir fühlten uns allein, isoliert von anderen Informatikinstituten. Persönlicher Kontakt war kein Problem – per Brief und teuren Anrufen. Aber bei allgemeinen Fragen und Hinweisen waren wir auf Fachartikel, Konferenzen und Newsletter beschränkt”, erzählte Truscott in einem Interview.

Um so ein schnelles, digitales und vergleichweise günstiges Kommunikationssystem zu entwerfen, trafen sich Ellis und Truscott mit Kollegen von der wenige Kilometer entfernten University of North Carolina at Chapel Hill. Die Foren-Pioniere entschlossen sich, die Rechner beider Universitäten mit normalen Modems und Telefonleitungen zu vernetzen, Dateianhänge und E-Mail über das Transferprotokoll des Unix to Unix Copy Program (UUCP) abzuwickeln und für die Foren eine eigene Unix-Software zu schreiben. Das übernahm Steven M. Bellovin, heute Informatikprofessor an der Columbia University.

Die drei stellten ihre in Themenhierarchien strukturierte Foren-Software 1980 offiziell auf einer Konferenz der Entwicklerorganisation Usenix vor. Das Usenet wuchs zum Treffpunkt für die Netzpioniere: Wer über die Zukunft des Internets, neue Software und Geek-Kultur überhaupt debattierte, schrieb seine Beiträge die folgenden anderthalb Jahrzehnte lang mit Sicherheit im Usenet.

Die Netzpioniere debattierten im Usenet

Tim Berners-Lee zum Beispiel hat seinen Vorschlag für ein neues digitales Informationsnetz 1991 im Usenet zur Debatte gestellt. In einem Eintrag im Forum alt.hypertext schrieb Berners-Lee einen mit “WorldWideWeb: Summary” betitelten Kommentar. Der beschreibt ironischerweise ein System, das bald zur Konkurrenz fürs klassische Usenet wurde. Berners-Lee schwärmt in seinem Beitrag von einem System, das “Techniken des Informationsabrufs und Hypertext zu einem einfachen, aber mächtigen globalen Informationssystem kombiniert”. Kurz gesagt: Zum World Wide Web, das heute für die meisten Nutzer gleichbedeutend mit dem Internet ist.

Um WWW-Seiten darzustellen, programmierte Anfang der neunziger Jahre ein Student namens Marc Andreessen einen Internetbrowser, der schnell zum damals populärsten wurde: Mosaic lief auf Unix-, Windows- und Mac-Rechnern, war kostenlos verfügbar und wurde so schnell zum Quasi-Standard. Dass diese Software fertig und verfügbar ist, verkündete Andreessen am 15. März 1993 in einem Usenet-Beitrag. Er lobte die besonderen Fähigkeiten dieses Programms – so habe der Mosaic-Browser zum Beispiel eine “Hotlist/bookmark”-Funktion, um “eine Liste interessanter Dokumente zu führen”. Nach seinem Uni-Abschluss 1993 gründete Andreessen mit dem Silicon-Graphics-Gründer Jim Clark eine Firma namens Netscape, die 1995 an die Börse ging und Andreessen zum Multimillionär machte – der Startschuss zum Dotcom-Boom der Internetunternehmen.

Wer sich für Netz-Geschichte interessiert, findet im Usenet viele wervolle Primärquellen. Da schreibt 1991 ein Finne namens Linus Benedict Torvalds, er arbeite an einem neuen Betriebssystem und könne Hilfe gebrauchen (der Anfang von Linux).

Da schreiben aber auch weniger bekannte Menschen über Alltagskultur. Es gibt eine der ersten Anleitung für die korrekte Benutzung von Emoticons und natürlich viele Debatten über ” Star Wars” – geführt zu einer Zeit, als “Die Rückkehr der Jedi-Ritter” noch gedreht wurde.

Raubkopien statt Debatten

Je populärer das WWW wurde und je mehr Menschen zum ersten Mal das Internet nutzten und dabei nicht über E-Mail und WWW hinauskamen, desto mehr entwickelte sich das Usenet zu einem Nischenmedium. Google kaufte 2001 ein Unternehmen, das eines der größten Usenet-Archive überhaupt verwaltete. Google baute eine übers Web nutzbare Usenet-Version auf, die bis 1981 zurückreicht. Die Suchfunktionalität ist nicht gerade perfekt, wie das Online-Magazin “Wired” kritisiert.

Während die alten Debatten im Archiv liegen, erlebt das Usenet in anderen Kreise eine Renaissance. Es gibt nicht nur Debatten-Gruppen, sondern auch Foren, wo es weniger ums Diskutieren und mehr um den Datentausch geht. In den Foren im Verzeichnisbaum alt.binaries können Nutzer Nachrichten mit angehängten Dateien veröffentlichten. Es gibt Gruppen mit Titeln wie “alt.binaries.games.xbox360”, “alt.binaries.dvd.german” und “alt.binaries.erotica.groupsex”, in denen sich offenkundig Nachrichten mit entsprechenden Dateien finden. Normale Internetprovider gewähren nur noch selten Zugang zu solchen Usenet-Gruppen, aber es gibt Anbieter, die sich darauf spezialisiert haben, Usenet-Zugänge gegen Bezahlung anzubieten, die auch solche Gruppen enthalten.

Tot ist das Usenet also auch nach 30 Jahren nicht – was auch den Erfinder Truscott überrascht. In einem Interview erklärte er 2007, dass er bei Start des WWW den “sofortigen Tod” des Usenets voraussagte. Truscott: “Ich habe erwartet, dass das Usenet von einem besseren Dienst abgelöst wird, der die schnelle, interaktiven Möglichkeiten des Webs nutzt. Aber das Usenet scheint sich in diese Richtung entwickelt zu haben.”


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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