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40 Jahre Elektro-Addierer: Der erste Taschenrechner wog 1,5 Kilo (Spiegel Online, 27.9.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

40 Jahre Elektro-Addierer

Der erste Taschenrechner wog 1,5 Kilo

Der Erfinder des Mikrochips Jack Kilby suchte eine Anwendung für sein Technikwunder. Ergebnis: 1967 baute Kilby den ersten Taschenrechner. Eine Erfolgsgeschichte beginnt – fünf Jahre später verkaufen in Deutschland Quelle und Neckermann die Geräte massenweise.

Spiegel Online, 27.9.2007

Schwarz schimmert der Aluminiumkasten, fast so dick wie ein Wörterbuch, schwerer als eine große Cola-Flasche: Um dieses Ungetüm einen Taschenrechner zu nennen, braucht man Chuzpe. Doch als dieser Prototyp im Frühling 1967 endlich fertig im Entwicklungslabor von Texas Instruments in Dallas steht, ist er wirklich winzig – für damalige Verhältnisse.

Die Rechenmaschine kann sechsstellige Zahlen addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Und das bis zu vier Stunden am Stück, ohne dass man die Batterien wechseln muss. Die Ergebnisse (bis zu zwölf Stellen!) spuckt der Rechner als Ausdruck auf einem schmalen Streifen Thermopapier aus – nach 40.000 Ziffern muss man die Papierrolle wechseln.

Das klingt antiquiert, bis man den Texas-Taschenrechner mit damaligen Geräten vergleicht: Vergleichbare Rechenleistung bringen 1967 nur Rechner, die 25 Kilo und mehr wiegen, ständig am Stromnetz hängen und einen großen Tisch einnehmen. Im Vergleich dazu nennen die drei Erfinder ihre Schöpfung zurecht den "elektronischen Miniatur-Rechner" – so steht es im Patentantrag, den Jack Kilby, Jerry Merryman und James Van Tassel am 29. September 1967 einreichen.

Halbleiter machen den Rechner taschentauglich

Ihre Erfindung – innerhalb zweier Jahre erdacht, entworfen und gebaut – hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber allen damaligen Rechenmonstern: Im Texas-Taschenrechner steckt ein System integrierter Schaltkreise, ein Mikrochip. Den hatte Ingenieur Jack Kilby schon Jahre zuvor im selben Labor von Texas Instruments entwickelt. Doch jahrelang erkennt niemand das Potenzial dieser Erfindung, heute Grundlage der Informationstechnologie. Deshalb lässt Texas Instruments den Taschenrechner entwickeln – um die Chancen der integrierten Halbleiterschaltungen zu demonstrieren.

Das schafft der Taschenrechner auch. Allerdings erst nach Anlaufschwierigkeiten. Anfangs glauben die Ingenieure selbst nicht so recht an die Massentauglichkeit ihrer Erfindung. Bei der 40-Jahr-Feier im Washingtoner National Museum of American History erinnert sich Jerry Merryman heute so: "Ich dachte, dass ein paar Buchhalter den Rechner benutzen würden. Und vielleicht könnten ein paar Ingenieurs-Studenten sie als Geschenk bekommen." Dass mit dem klobigen Rechenkasten eine Revolution begann, habe er "erst später" begriffen.

US-Magazine jubeln: "Winzige elektronische Wunder"

Die Anfänge sind mühsam, für die Markteinführung des Taschenrechners sucht Texas Instruments erst einen Partner. Jahre vergehen, dann bringt der japanische Konzern Canon 1970 den ersten Taschenrechner auf den Markt, erst in Japan, dann in den Vereinigten Staaten. Der Pocketronic besteht aus Bauteilen von Texas Instruments. Die US-Fachpresse ist begeistert: Das Bastlerblatt "Electronics" jubelt, die "Nutzung winziger elektronischer Wunder" habe die "Rechenmaschine enorm verkleinert – so sehr, dass sie in eine Tasche passt".

Parallel zum Pocketronic erscheinen viele vergleichbare Rechner, Sharp, Sanyo, Busicom und Bowmar heißen die Konkurrenten. Einige nutzen Mikrochips eines jungen Wettbewerbers von Texas Instruments – Intel. Der Taschenrechner-Boom setzt ein, als 1972 die ersten Geräte nicht nur Grundrechenarten, sondern auch logarithmische, trigonomische und exponentielle Funktionen berechnen können.

Einer der ersten dieser wissenschaftlichen Taschenrechner kommt vom Konzern Hewlett-Packard. Im Juni 1972 feiern die drei Chefentwickler ihre Erfindung im hauseigenen "HP Journal": Der 250 Gramm schwere Taschenrechner sei "klein genug, um in eine Hemdtasche zu passen". Eine halbe Million Exemplare verkauft HP 1972 in den Vereinigten Staaten.

Einer der ersten Wunderrechner kostet fast 2000 Mark

In Deutschland kostet das HP-Gerät damals 1987 Mark. Die ersten Abnehmer: Forscher an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, Physiker am Hamburger Elektronen-Synchrotron Desy und die Deutsche Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt, die gleich 40 Exemplare bestellt. Der SPIEGEL ist begeistert, dass Test-Ingenieure, die den Säurewert einer gepufferten Lösung ermitteln, mit dem Taschengerät 65 Sekunden brauchen – mit dem Rechenschieber dauerte das durchschnittlich fünf Minuten.

Weihnachten 1972 schafft der Taschenrechner in Deutschland den Durchbruch: Man bekommt die Geräte nicht mehr nur im Fachhandel, sondern auch in Radioläden und Warenhäusern. Der SPIEGEL sieht im November mit Blick auf die Vorweihnachtszeit enormes Potenzial: "Architekten und Landvermesser, Ärzte und Handelsvertreter. Lohnbuchhalter und Flugzeugnavigatoren, aber auch Hausfrauen und Hobby-Rechner, die einfach ihrem Spieltrieb nachgehen wollen, sind potentielle Kunden."

1973: Eine Million Taschenrechner in Deutschland

Und so kommt es auch: 1973 kaufen die Deutschen Schätzungen von Branchenexperten zufolge eine Million, 1974 schon 1,5 Millionen Taschenrechner. Ein aggressiver Preiskampf tobt auf dem deutschen Taschenrechnermarkt: Quelle und Neckermann versuchen, einander mit billigen Simpel-Rechnern (50 Mark aufwärts), aber auch mit günstigen, wissenschaftlichen Modellen für Schüler und Studenten Kunden abzujagen.

Der Informatiker Klemens Krause, der heute Taschenrechner im Computermuseum der Informatik-Fakultät an der Uni Stuttgart sammelt, erinnert sich: "Als ich in der Oberstufe war, kam eines Tages ein Vertreter von Hewlett-Packard in die Klasse und führte den HP-35 für damals etwa 2000 Mark vor. Das dürfte etwa 1972 gewesen sein." Fünf Jahre später kaufte Krause als Student seinen ersten Taschenrechner mit wissenschaftlichen Funktionen – für 198 Mark bei Quelle.

Immer weniger verkaufte Taschenrechner

Heute kaufen immer weniger Menschen Taschenrechner: 1999 wurden in Deutschland laut dem Handelspanel der GfK Marketing Services etwas 4,4 Millionen Taschenrechner verkauft – Gesamtwert 93,7 Millionen Euro. 2006 gingen nur noch 3,4 Millionen Geräte weg. Gesamtwert: 66 Millionen Euro. Texas Instruments ist in Deutschland Marktführer – allerdings verkauft die Firma vor allem teure, leistungsfähigere Taschenrechner für Schulen und Universitäten.

In sieben Jahren ein Viertel weniger verkaufte Exemplare – der Taschenrechner hat seine beste Zeit hinter sich. Kein Wunder: Heutzutage kann jedes Handy rechnen.

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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