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60 Jahre Euro-Transistor: Deutschlands vergessene Chip-Großväter (Spiegel Online, 17.4.2008)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

60 Jahre Euro-Transistor

Deutschlands vergessene Chip-Großväter

Milliarden von Transistoren treiben heute Computer und Mobiltelefone an, als Entwickler gelten US-Forscher der Bell Laboratories. Doch unabhängig und parallel bauten zwei deutsche Physiker vor 60 Jahren den Prototyp eines Transistors. Die Geschichte zweier verkannter Pioniere.

Spiegel Online, 17.4.2008

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So kann man sich irren: Am 1. Juli 1948 versteckte die “New York Times” auf Seite 46 zwischen allerlei anderen Meldungen zum Radioprogramm (Radiotheater abgesetzt, Verkehrsnachrichten für Wochenendurlauber) die eigentlich Titelseiten-würdige Nachricht, dass der Telefonkonzern Bell der Presse ein neues Gerät namens Transistor vorgeführt hatte. Für die Erfindung gebe es, so schrieb die Times “viele Verwendungsmöglichkeiten in Radios, wo bislang Elektronenröhren zum Einsatz kommen.”

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Heute treiben Milliarden von Transistoren Computer, Fernseher, Radios und Mobiltelefone an (zur Funktionsweise siehe Kasten).

HALBLEITERBAUELEMENTE: DIE RECHENKNECHTE DES IT-ZEITALTER

Transistoren
Transistoren können elektrische Signale verstärken (wichtig beim Einsatz in Radios) oder als nicht-mechanische Schalter wirken. Als Schalter können Transistoren die beiden grundlegenden Zustände des Binärsystems darstellen: Strom oder kein Strom, 1 oder 0 – die Basis der Informationstechnologie. (mehr bei SPIEGEL WISSEN)

integrierter Schaltkreis
Ein integrierter Schaltkreis fasst Elemente wie Transistoren, Widerstände und Kondensatoren zusammen. Auf Computerprozessoren finden heute Millionen von Transistoren Platz – 820 Millionen zum Beispiel auf neuen Intel-Chips der “Penry”-Reihe. (mehr bei SPIEGEL WISSEN)

Diese Zukunft ahnte 1948 wohl kein Reporter. Weil die Bedeutung des Transistors kaum jemanden klar war, schaute sich damals niemand genauer die Vorgeschichte der Erfindung an. Die zuerst von der “New York Times” erzählte Version hielt sich Jahrzehnte lang: Forscher der Bell Laboratories hätten den Transistor entwickelt. Punkt. William Shockley, John Bardeen und Walter Brattain bekamen dafür 1956 den Physik-Nobelpreis.

Doch die Geschichte des Transistors ist etwas komplizierter: Wichtige theoretische Vorarbeiten und erste Patente gab es in Österreich und Deutschland schon in den zwanziger und dreißiger Jahren. Und parallel zu den US-Forschern der Bell Laboratories bauten in Paris 1948 zwei deutsche Physiker einen Transistor: Heinrich Welker, später Siemens-Forschungschef, und Herbert Mataré (Biographien siehe Kasten unten).

TECHNIKGESCHICHTE: DIE DEUTSCHEN VÄTER DES TRANSISTORS

Herbert Mataré
In Aachen kam Herbert Mataré 1912 zur Welt, studierte dort und in Genf Mathematik, Physik und Chemie, erwarb 1939 einen Ingenieurstitel in Angewandter Physik. Danach forschte er in Telefunken-Labors an Radar-Technik, machte an der Technischen Universität Berlin seinen Doktor in Elektrotechnik. Nach Kriegsende wurde Mataré bald von Mitgliedern der alliierten Streitkräfte für die Forschungsarbeit in Paris angeworben. Dort entwickelte er mit Welker bei dem Unternehmen “Freins et Signaux Westinghouse” den Transistor, Anfang der 50er Jahre gründete er mit US-Investoren in Düsseldorf den Halbleiter-Hersteller Intermetall. 1953 wanderte er zum ersten Mal, 1962 endgültig in die Vereinigten Staaten aus, wo er für verschiedene Unternehmen forschte. Heute lebt Mataré in Malibu.

Heinrich Welker
Der 1912 in Ingolstadt geborene Welker studierte in München Mathematik und Physik, promovierte, arbeitete als Assistent an der Universität. 1946 nahm er wie Herbert Mataré das Angebot an, in Paris für das Unternehmen “Freins et Signaux Westinghouse” zu forschen. Später arbeitete Welker bei Siemens in Erlangen, leitete von 1969 an die Siemens-Forschungslabors. Er starb 1981.

Der 95-jährige Mataré lebt heute in Malibu. Er erzählte SPIEGEL ONLINE: “Den Transistoreffekt hatten wir zum ersten Mal Anfang 1948 gemessen, den ersten Prototypen eines Transistors haben wir dann im Mai oder Juni gebaut.”

Diese Prototypen liegen heute im Archiv des Deutschen Museums in München. Technikhistoriker haben sich bislang nicht besonders für sie interessiert. Der belgische Sachbuchautor Armand Van Dormael hat über Matarés und Welkers Verdienste geschrieben, plant ein Buch (“The Silicon Revolution”) zum Thema. Hartmut Hillmer, Professor für Technische Elektronik an der Universität Kassel, hat die Geschichte dieser Parallelentwicklung in einem Aufsatz erzählt.

Der Wissenschaftler berichtet: “Ich bin zufällig auf diese Geschichte gestoßen, als ich an einem Aufsatz zum 50. Geburtstag des Transistors schrieb. Plötzlich merkte ich, dass das so gar nicht stimmt.” Sein Eindruck: “Je mehr Dokumente ich im Deutschen Patentamt sichtete, desto klarer wurde, dass die Bell-Wissenschaftler wichtige Vorarbeiten anderer Wissenschaftler unerwähnt ließen. Das lässt sich alles mit Dokumenten belegen.”

Die theoretischen Vorarbeiten für den Transistor hatten europäische Wissenschaftler Jahre vor den Bell-Forschern geleistet (siehe Kasten unten).

TECHNIKGESCHICHTE: DIE VORVÄTER DES TRANSISTORS

Julius Edgar Lilienfeld
Der 1881 in Lemberg geborene, in Österreich-Ungarn aufgewachsene Physiker Lilienfeld studierte in Berlin und forschte später in Leipzig. Er beschrieb 1926 und 1928 in ersten Patenten das Prinzip des Transistors, konnte aber damals keine Prototypen bauen, weil die notwendigen Halbleiter-Materialien fehlten. Kenner der historischen Dokumente wie Hartmut Hillmer, Professor für Technische Elektronik an der Universität Kassel, sehen es als belegt an, dass die Bell-Forscher Lilienfelds Patente kannten. Lilienfeld wanderte 1927 wegen des wachsenden Antisemitismus in die Vereinigten Staaten aus. (mehr bei SPIEGEL WISSEN)

Oskar Heil
Der deutsche Physiker Oskar Heil baute 1934 einen funktionierenden Feldeffekttransistor und ließ sich das Konstruktionsprinzip patentieren. (mehr bei SPIEGEL WISSEN)

Robert Wichard Pohl
Der in Hamburg geborene Physiker Robert Wichard Pohl forschte an der Universität Göttingen, erzeugte dort 1933 mit Salzkristallen mit dem Feldeffekttransistor vergleichbare und somit siliziumähnliche Halbleitereffekte, konstruierte später Halbleiterverstärker. (mehr bei SPIEGEL WISSEN)

Schon im Dezember 1947 hatten die Forscher der Bell Laboratories den Prototypen eines Transistors erfolgreich in Betrieb genommen. Das Unternehmen hielt diesen Durchbruch aber sechs Monate lang geheim, bis zur Pressekonferenz Ende Juni, von der die “New York Times” berichtete.

In diesen sechs Monaten setzten Herbert Mataré und Heinrich Welker unabhängig von den Bell-Forschern ihren Transistor-Prototypen in Paris in Gang. Hartmut Hillmer, Professor für Technische Elektronik an der Universität Kassel: “Wären sie eher an die Öffentlichkeit gegangen, hätten sie womöglich den Ruhm mit den US-Kollegen geteilt. Aber es ist eben anders gekommen, eine traurige Sache, vor allem, weil die Entwicklung des Transistors eindeutig in Europa begann.”

Die Verdienste der beiden beurteilen Kenner der Dokumente so:

  • Hartmut Hillmer erklärt SPIEGEL ONLINE: “Die Forscher der Bell Laboratories haben in der Tat den ersten funktionierenden Spitzentransistor – ein Mischung aus Bipolar- und Feldeffekttransistor – konstruiert.” Dafür gebühre ihnen der Ruhm zu Recht. Nur, so Hillmer: “Meiner Meinung nach hätten Wissenschaftler wie Heinrich Welker und Julius Edgar Lilienfeld den Nobelpreis ebenso verdient. Welker und Herbert F. Mataré haben parallel zu den Bell-Forschern einen funktionierenden Transistor entwickelt.”
  • Der belgische Sachbuchautor Armand Van Dormael, der mehrere Vorträge und Aufsätze zu dem Thema geschrieben hat, urteilt: “Herbert Mataré and Heinrich Welker haben den Nobelpreis verdient.”
  • Michael Riordan, außerplanmäßiger Professor für Physikgeschichte an der University of California in Santa Cruz, schrieb in einem Aufsatz für IEEE Spectrum: “Die wohl wichtigste Erfindung des 20. Jahrhunderts wurde zweimal gemacht – unabhängig voneinander.”

Herbert Mataré selbst sieht das gelassener. Er erzählt am Telefon, wie die Bell-Forscher ihn nach der Veröffentlichung in Paris besuchten, wie er sie auf Konferenzen traf und man über die Forschung plauderte. Mataré zu SPIEGEL ONLINE: “Ich habe keine schlechten Gefühle, weil die Bell-Forscher als Entwickler des Transistors gefeiert wurden. Sie haben unabhängig von unseren Forschungen parallel den ersten funktionierenden Prototypen ein paar Monate vor uns fertig gestellt. So ist das eben.” Nur: Hätten Mataré und Welker ihre Ergebnisse vor dem 1. Juli publik gemacht, wäre ihr Beitrag wohl nicht so in Vergessenheit geraten.

Der Physiker Mataré arbeitet noch immer als wissenschaftlicher Berater, heute vor allem für eine ganz neue Halbleiterindustrie. Er berät Unternehmen bei der Konstruktion von Solarzellen: “Gestern hatte ich zwei Leute aus San Francisco zum Essen hier, wir haben über mögliche Effizienzsteigerungen gesprochen.”

Mataré lebt fünf Autostunden vom Silicon Valley entfernt. Dort ist längst eine ganze Industrie auf Basis des Halbleiterphänomens entstanden, das er vor 60 Jahren beobachtet und genutzt hat.

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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