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Abgesang auf AOL: Der Online-Dienst hat ausgedient (Spiegel Online, 16.10.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Abgesang auf AOL

Der Online-Dienst hat ausgedient

35 Millionen Menschen brachte AOL zu seinen Hochzeiten ins Internet. In Zukunft sind Web-Zugänge nur noch ein Randgeschäft für das Unternehmen: Geschäftsführer Falco erklärt Online-Werbung zum Zukunftsmarkt. AOLs weichgespültes Abo-Internet lockt keinen mehr.

Spiegel Online, 16.10.2007

Zu einer Zeit, als es noch als kompliziert galt, den Weg ins Internet zu finden, war AOL der Platzhirsch unter den sogenannten Online-Diensten: Geschlossene Abo-Blasen im Netz waren das, mit Inhalten, die nur zahlenden Kunden offen standen. 

In den vergangenen Jahren aber war der AOL-Dienst ein Anachronismus. Die meisten Kunden nutzten ihn vornehmlich als Internet-Zugang, den es auf anderen Wegen so viel preisgünstiger gab. Selbst Preissenkungen, Kopplungen an DSL-Zugänge, exklusive Medienangebote und andere Maßnahmen konnten den Trend nicht aufhalten. Längst waren Verwandte wie CompuServe oder T-Online dem Weg der Saurier gefolgt – ausgestorben, aus den Augen, aus dem Sinn. Wer braucht noch einen Online-Dienst?
Inzwischen also haben John Lieberman und Jim McKenna gewonnen. Sechs Jahre lang sammelten die kalifornischen Öko-Aktivisten die berüchtigten AOL-Werbe-CDs. Der Online-Riese brachte auf den CDs seine Zugangs-Software kostenlos und unverlangt als Magazin-Beilagen oder per Direktversand unters Volk. Als Protest gegen diese Umweltverschmutzung wollten Lieberman und McKenna eine Million CDs vor der AOL-Zentrale abladen.

410.176 CDs haben sie von empörten Kunden erhalten, fast 80.000 aus Deutschland. Dann mussten die beiden ihre Kampagne im August abblasen. Denn, so steht es auf ihrer Website: "AOL verschickt keine CDs mehr."

AOL sieht keine Zukunft mehr in seinem ehemaligen Kerngeschäft: Internetzugänge mit dem einfach bedienbaren, familienfreundlich gefilterten und geschlossenen AOL-Portal als Sahnehäubchen bringen nicht mehr genug Geld ein. In einer E-Mail an die verbliebenen 10.000 AOL-Mitarbeiter (es waren mal 20.000) verkündet nun Geschäftsführer Randy Falco (seit Ende 2006 dabei), dass 2000 von ihnen gehen müssen. Das ist Teil des AOL-Wandels vom "gebührenfinanzierten Internet-Provider zum werbefinanzierten Web-Unternehmen".

Heute zählen bei AOL vor allem Seitenaufrufe

Jahrelang hat der Konzern seinen Erfolg in Abonnenten-Zahlen gemessen. Je mehr Kunden mit AOL surften, desto mehr Abo-Gebühren flossen. Mit aggressiven Werbemethoden wie den legendären Kostenlos-CDs trieb AOL seine Kundenzahl hoch. Vorinstallations- Vereinbarungen mit PC-Herstellern sorgten für weitere Kundschaft.

Heute definiert der Konzern Erfolg anders: 52 Milliarden Seitenaufrufe hätten die Web-Angebote des Konzern im zweiten Quartal verzeichnet, 114 Millionen Besucher könnten die AOL-Seiten jeden Monat verzeichnen. Abonnenten weist der Konzern nicht mehr prominent aus. Sprich: Wichtig sind viele Klicks und große Reichweite – egal ob von zahlenden Kunden oder Nicht-AOL-Surfern.

Als Internet-Provider hat AOL dagegen massiv verloren: 35 Millionen Kunden brachte das Unternehmen 2003 weltweit ins Netz, heute sind es weniger als 25 Millionen. In den Vereinigten Staaten hat sich die Zahl seit der Verschmelzung mit dem Medienkonzern Time Warner 2001 fast halbiert. Der Umsatz sinkt: Von fast vier Milliarden Dollar im ersten Halbjahr 2006 auf nur 2,7 Milliarden Dollar im ersten Halbjahr 2007. Hintergrund: Die Abo-Einnahmen sinken rapide, die Werbeerlöse wachsen nicht ganz so schnell ( Geschäftszahlen als PDF-Dokument).

AOL spart brutal und verdient gut

Trotzdem steigt der Gewinn: 1,4 Milliarden Dollar verdiente AOL im ersten Halbjahr 2007. Der Grund: weniger Werbeausgaben, weniger Technik, weniger Personal, weniger Service für Internetzugänge. AOL hat Tausende von US-Mitarbeitern in seinen Call-Centern entlassen. Die AOL-Telefonhilfe wird jetzt komplett in Indien, Argentinien und auf den Philippinen abgewickelt.

Wo es geht, verscherbelte AOL sein Zugangsgeschäft: In Deutschland an Hansenet, in Großbritannien an Carphone Warehouse. In den Vereinigten Staaten verlegt AOL die Firmenzentrale nach New York, wo die Werbebranche sitzt, weg von Dulles in Virginia, wo AOL einst als Internet-Provider groß geworden ist.

Ein paar Kilometer von dort entfernt, im 14.000-Einwohner Städtchen Vienna, begann 1983 die AOL-Geschichte. Damals hieß die Firma noch Control Video Corporation, verkaufte Spiele für den Atari 2600. Die Besonderheit: Kunden konnten die Titel per Modem und Telefonleitung auf ihre Rechner laden. Manager Steve Case baute die Klitsche in den folgenden zwei Jahrzehnten zum Internet-Giganten AOL auf.

Das Erfolgsrezept: CVC (von 1989 an America Online, bzw. AOL) stülpte eine bunte, für Laien einigermaßen einfach zu bedienende Software über technisch komplexe Online-Dienste. AOL bot zum Beispiel schon 1986 ein Ur-Second-Life an, "Habitat" hieß die Online-Welt für den C64. Später kamen dann geschlossene Online-Dienste für Macs und PCs dazu. Das Unternehmen fasste beide Dienste zusammen und konzentrierte sich darauf, Kunden eine leicht bedienbare (sofern man sich an Standardvorgaben hält), familienfreundliche, vorsortierte Version des Internets zu liefern.

AOL bot ein "Internet light"

Die von AOL millionenfach vertriebenen Werbe-CDs verkörpern dieses Modell des "Internet light": Alles soll ganz simpel sein – CD einlegen, Software installieren, AOL-Abo abschließen und surfen. Internet ohne AOL-Software, mit Browser, Modem und Betriebssystem allein – das traute der Konzern den Kunden nicht zu. Zu einer Zeit, als man vor dem Browser-Aufruf noch durch Direkteinwahl per Trumpet Winsocket eine Internetverbindung aufbauen musste, stimmte und passte das. Daran aber erinnern sich nur noch Surfer der ersten Jahre.

Der AOL-Dienst folgte lange Zeit derselben Logik wie die Installation: In der AOL-Welt sollte alles leicht zu bedienen sein. Statt Web-Adressen mussten die Kunden im AOL-Netz nur Schlagwörter eintippen. E-Mail- und Chat-Programme mussten Sie auch nicht bedienen – das übernahm die AOL-Software.

Gängel-Software ärger Profis

AOL zögerte, seine Nutzer einfach so ins wilde Web, ins richtige Internet zu entlassen – erst spät erlaubte es die AOL-Software ihren Nutzern, mit anderen Programmen parallel ins Netz zu gehen. Profis ärgerte diese Gängel-Software, zudem waren AOL-Zugangsprogramme wegen ihrer Macken arg umstritten – die Leser des US-Magazins "PC World" wählten die AOL-Software 2006 sogar zum schlechtesten IT-Produkt aller Zeiten. Berüchtigt waren die Inkompatibilitäten beim E-Mail-Verkehr über AOLs Mail-Gateways. Innerhalb der Online-Dienst-Blase funktionierte alles, über die Grenzen hinweg hingegen wenig.

Trotzdem: In den frühen Jahren des Webs war AOLs "Internet light" den Kunden sogar den geringen Abo-Aufpreis im Vergleich zu anderen Web-Anbietern wert: 1994 hatte AOL eine Million Kunden, 1996 waren es zehn Millionen. Und im Jahr 2000, auf der Spitze des Web-Booms, verschmolz AOL mit dem Medienkonzern Time Warner. Spektakulärer noch: Der Zwerg fraß den Riesen, der Online-Emporkömmling das etablierte Medien-Imperium.

Und dann, nach einem Boom-Jahrzehnt, schrumpfte das Zugangsgeschäft plötzlich. Simple Bedienung und ein paar Extradienste waren den Nutzern keinen Aufschlag mehr wert, AOL lieferte sich einen Preiskampf mit Telekom-Konzernen und Kabel-Firmen, die Internetzugänge günstig anboten. Das Internet wurde zu einem Allgemeingut. Und je größer die Nutzerzahlen wurden, desto weniger sinnvoll erschien die Abo-Strategie. Zum einen kostete die Abo-Werbung und –pflege viel. Zum anderen entgingen AOL in seinem geschlossenen Dienst Werbeerlöse. Kostenlos-Web-Plattformen sind attraktiver, beliebter und die Werbeplätze dort folglich teurer.

AOL als Werbenetzwerk

Im vorigen Jahr hat das auch AOL erkannt: Der Konzern kündigte im August an, all seine Webangebote und die meisten seiner Dienste kostenlos auch Nicht-Abonnenten anzubieten. Mehr Nutzer, mehr Werbung, mehr Umsatz. Zum AOL-Konzern gehören inzwischen Klatschportale (TMZ.com), Landkartendienste (Mapquest) und Chatprogramme (ICQ).

Auf drei Säulen soll das AOL-Geschäft in Zukunft ruhen, beschreibt Geschäftsführer Randy Falco in seiner E-Mail an die 2000 entlassenen und 8000 Noch-AOL-Mitarbeiter: Werbevermarktung, eigene Inhalte und Web-Zugänge: "Einfach gesagt, ist es meine Vision, AOL zum größten und fortschrittlichsten Werbe-Netzwerk zu machen." Sprich: Jetzt arbeitet der einst weltgrößte Internet-Provider nur noch digital. Nie mehr AOL-CDs.

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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