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Ärger mit Reisepässen: Die Nullen aus dem Innenministerium (Spiegel Online, 2.6.2010)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Ärger mit Reisepässen

Die Nullen aus dem Innenministerium

Steht da ein O oder eine 0? Im neuen Reisepass sieht beides identisch aus. Viele USA-Reisende verwechseln deshalb beim elektronischen Visa-Antrag die Ziffer mit dem Buchstaben – und bekommen Stress bei der Einreise. Typographie-Experten sind entsetzt über die stümperhafte Schriftgestaltung.

Spiegel Online, 2.6.2010

{jumi [*3]}

Gregor Honsel kennt sich mit Technik eigentlich ganz gut aus: Als Redakteur beim Fachmagazin “Technology Review” schreibt er über Verkehrs-Erfassungssysteme, Displaytechnologien und Biometrie. An seinem Reisepass ist Honsel trotzdem gescheitert. Nach einem Flug in die Vereinigten Staaten bekam er Probleme bei der Passkontrolle: Sein elektronischer Einreiseantrag wurde abgewiesen. Das liegt an der Schriftart, die das Innenministerium für die neuen Chip-Pässe gewählt hat.

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Technikredakteur Honsel geriet zum Glück an eine freundliche US-Einreisebeamtin. Statt ihn nach Deutschland zurückzuschicken, spürte sie die Fehlerquelle auf. Honsel erzählt in seinem Blog: “Sie hatte den Fehler schnell entdeckt. Offenbar kommt das Problem öfter vor: Ich hatte im ESTA-Online-Formular bei meiner Passnummer den Buchstaben “O” statt einer Null eingetippt.” Da bei der Einreise der Pass elektronisch ausgelesen und mit den im ESTA-Formular eingegebenen Daten verglichen wird, kann bei einer falsch eingetippten Nummer eben kein Antrag gefunden werden.

Honsel kam mit etwas Stress und Schrecken davon: Er musste mit seinem Gepäck am Flughafen ein Internetcafé suchen, den Einreise-Antrag online noch einmal korrekt ausfüllen und durfte dann einreisen. Honsels Fazit: “Was mich immer noch aufregt, ist diese hanebüchene Hirnlosigkeit, mit der der neue Reisepass entwickelt worden ist. Der Unterschied zwischen einer Null und einem O ist nämlich auch mit Lupe, Spürsinn und gutem Willen nicht auszumachen.”

Im Chip-Reisepass stehen Ziffern und Buchstaben – aber welche?

So geht es auch anderen Reisenden, die ihre Passnummer vorab irgendwo eintippen müssen. Denn bei der Einführung der Chip-Reisepässe Ende 2007 wurde auch die Seriennummer geändert. Früher bestand die nur aus Ziffern, seitdem stehen auch Buchstaben drin. Nur welche? Das Fragen ratlose Reisende, die über den Online-Formularen ihrer Reiseziele brüten:

  • “Ich hab heute angefangen, die Online-Bewerbung für das Work & Travel Visum auszufüllen. Bei der Eingabe der Passnummer fiel mir auf, dass diese neuerdings (neuer Reisepass) Zahlen UND Buchstaben enthält. Nun kann ich optisch den Buchstaben “O” nicht von der Ziffer “0” unterscheiden. Weiß jemand Rat?” (Australien-Fan im Fernwehforum)
  • “Wie kann ich erkennen, ob die Ziffer im Reisepass die Zahl 0 (null) oder der Buchstaben O (oh) ist?” (fragt jemand bei Gutefrage.net)
  • “Eine Unterscheidung ist mit bloßem Auge nicht möglich, und es bedurfte mehrerer Anrufe bei den zuständigen Behörden, bis ich die Auskunft erhielt, dass es sich wohl um eine Null handelt. Die Null sei “etwas schmaler als das O”. Na, herzlichen Glückwunsch.” (berichtet Blogger Matthias Häger)

Statt klarer Schrift ein O-Verbot für die Passnummer

Die Lösung ist gut versteckt: In der Passnummer können zwar Buchstaben vorkommen, aber kein O. Das Innenministerium hat einen erheblich komplizierteren Weg gewählt als einfach eine klare Schriftart zu wählen: An bestimmten Stellen im Pass darf ein O gar nicht vorkommen, weil es der 0 zu ähnlich sieht. Das steht vor den vielen ratlosen Reisenden gut versteckt und verklausuliert in einer Art Bedienungsanleitung ( PDF-Dokument) für den Reisepass:

Das Problem: Kein Reisepass-Besitzer kennt diese Regeln. Das erfährt man erst, nachdem man einmal O und 0 verwechselt hat.

    “Die neue Seriennummer in deutschen Reisepässen setzt sich nunmehr aus den Ziffern 0-9 und Buchstaben des lateinischen Alphabets zusammen. Insgesamt werden 27 Zeichen (Ziffern und Buchstaben) verwendet. Zur Vermeidung sinntragender Wörter und der Sicherstellung der OCR-Lesbarkeit wurde auf die Verwendung der Vokale (A, E, I, O, U) und bestimmter Buchstaben (B, D, Q, S) verzichtet.”

Erst die Pass-Gebrauchsanweisung lesen, dann reisen

Typographie-Experten verstehen nicht, warum bei der Reisepass-Schrift das O nicht von der 0 zu unterscheiden ist und man erst die Anleitung des Innenministeriums lesen muss. Jürgen Siebert, Vorstandmitglied beim Schrifthaus FontShop vermutete, dass kein Schriftexperte zu Rate gezogen wurde. Sieber: “Einem solchen würden natürlich sofort die Ohren klingeln, wenn von alphanumerischen Seriennummern die Rede ist.”

Denn da muss man aufpassen, dass Ziffern und Buchstaben klar zu unterscheiden sind. Bei den deutschen KFZ-Kennzeichen gelingt das gut, weil die Positionen von Buchstaben und Ziffern klar geregelt sind. Trotzdem sehen bei der für die Kennzeichen verwendeten Schriftart FE (eine Abkürzung für fälschungserschwert) die 0 und das O ganz unterschiedlich aus. Siebert: “Die Null hat rechts oben eine kleine Lücke, vergleichbar dem Kringel, den wir in der Schule lernen.”

Diese gestalterische Lösung ist die eleganteste. Und es ist überhaupt nicht kompliziert, eine Schrift zu entwerfen, bei der die 0 anders aussieht als das O. Typographie-Experte Siebert: “Das ist absolut leicht zu lösen – eine Trivialität für Schriftentwerfer.”

In anderen Staaten gelingt die Passbenutzung ohne Handbuch: Beim britischen Reisepass zum Beispiel (siehe Fotostrecke) sind 0 und O gut zu unterscheiden – die Ziffer hat einen dicken Bauch, der Buchstabe ist recht schlank. Auch im alten deutschen Führerschein (dem Papierlappen) ist beides gut zu unterscheiden: Der Buchstabe ist recht eckig, die Ziffer schön rund.

Innenministerium ersucht die Vereinigten Staaten um O-Blockade

Warum hat das Bundesinnenministerium beim neuen Super-Reisepass nicht eine ähnlich klare Schrift gewählt wie sie schon beim alten Führerschein? Die Bundesdruckerei verweist ans Ministerium.

Vom Innenministerium war zunächst keine Stellungnahme zu erhalten. Kurz nach Veröffentlichung des Artikels antwortete ein Sprecher des Innenministeriums auf die Anfrage von SPIEGEL ONLINE und räumte ein, die “Unterscheidung” der “unterschiedlich gestalteten Zeichen” für O und 0 sei “für ein ungeübtes Auge nur schwer möglich”. Daher verzichte man auf den Buchstaben O in der Passnummer. Diese “vom BMI gewählte Variante” sei “benutzerfreundlich”. Die damit “gleichwohl verbundenen Probleme” beim elektronischen Einreiseantrag ESTA seien “überaus bedauerlich”.

Um diese Probleme zu lösen, wurden die “Vereinigten Staaten von Amerika gebeten, auf der deutschen Fassung der ESTA-Internetseite einen Hinweis auf die Zusammensetzung der deutschen Passnummer aufzunehmen” oder “die Eingabe des Buchstaben O in das Formular nicht zuzulassen, um ärgerliche Verzögerungen bei der Einreise zu vermeiden”. Bislang sei der Vorschlag “leider noch nicht umgesetzt worden”. Das Ministerium werde sich “weiterhin intensiv darum bemühen”, einen entsprechenden Hinweis “zu erwirken”.

Schriftexperten: Klare Zeichen sind ein “Akt der Höflichkeit”

So ein Hinweis müsste dann allerdings auch auf die Seiten aller anderen Staaten mit elektronischen Einreiseanträgen. Eine klare Schrift im Pass ist da die einfachere Lösung. Schriftexperten ist eine eindeutige Schrift ein Akt der Höflichkeit gegenüber den Ausweisbesitzern. Typographie-Experte Jürgen Siebert: “Das Ausfüllen von Formularen verursacht genug Stress und macht selten Spaß, dann sollte man die Menschen nicht zusätzlich mit verwechselbaren Zeichen verunsichern.”

In Deutschland sollte man besser erst mal die offizielle Reisepass-Gebrauchsanleitung lesen, bevor man losfährt.

{jumi [*5]}

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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