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Alles im Blick (Frankfurter Rundschau, 15.8.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Alles im Blick

Das Mautsystem zeigt: Die Realität wird maschinenlesbar – was manche freut und andere bangen lässt

Frankfurter Rundschau, 15.8.2003

Die Zukunft in den Terminator-Filmen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert: Die Kampfroboter ähneln Menschen – trotz des Metalls, das unter ihrer Haut zum Vorschein kommt. Aber auch wenn der Terminator derzeit mit zwei Augen aus seinem Stahlschädel in die Kinosäle starrt: Die Zukunft der maschinellen Welterkenntnis sieht anders aus. Roboter brauchen keine Sehorgane, um die Umwelt wahrzunehmen. Stattdessen wird die Umwelt maschinenlesbar gemacht. Ein Beispiel dafür ist die Abrechnung der deutschen Lastwagen-Maut.

"Die Menge und Qualität der damit verfügbaren Daten ist besser als alles, was es bisher gab", sagt Professor Hans-Helmut Grandjot vom Fachbereich für Verkehrsbetriebswirtschaft der Fachhochschule Heilbronn. Zwar nutzen Speditionen längst satellitengestützte Flottenmanagementsysteme. Doch wegen der Kosten ist die Technik bislang großen Unternehmen vorbehalten. Mit dem Mautsystem steckt sie in jedem Lkw – und könnte weit mehr als die Gebühren für gefahrene Kilometer berechnen: "Wenn die Daten einmal für Unternehmen nutzbar sein werden, können ganz neue Lenkungsmodelle entstehen", freut sich Professor Grandjot. Solche Mehrwertdienste würden folgen, wenn die Technik erst im Einsatz ist – "spätestens in der übernächsten Legislaturperiode".

Das derzeit viel gescholtene Maut-Betreiberkonsortium Toll Collect sagt zu den potenziellen Nutzungsszenarien seines Systems öffentlich wenig. Außer: "Die mautrelevanten Daten dürfen ausschließlich für die Erhebung der Maut verwendet werden. Weitere Anwendungsfelder verschließen sich damit." Doch Logistik-Unternehmer äußern sich anders. Joachim Schmidt, Vorstand beim Verkehrs- und Transportplanungsunternehmen, sagt: "Zusatzdienste für die Maut-Endgeräte sind bereits in der Überlegung. So soll es einen unabhängigen Serviceknoten geben, über den Toll Collect die Mautdaten anderen Dienstebetreibern oder Speditionen zur Verfügung stellen kann."

Mit den digital verfügbaren Daten lassen sich seiner Ansicht nach attraktive Zusatzdienste umsetzen. So könnten Spediteure permanent die erwartete Ankunftszeit auf Grund der aktuellen Position eines Lastwagens und der Verkehrslage berechnen. Beim Transport sensibler Güter könnte die Überwachung der Fahrzeugposition die Sicherheit erhöhen. Eine etwas weiter entfernte Zukunft mit einheitlich ausgestatteten Lastwagen malt sich Schmidt so aus: "Lkw melden sich automatisch frei; Frachtenbörsen nutzen frei gemeldete Kapazitäten für die angemeldeten Ladungen. Fahrer entscheiden selbsttätig über Annahme und Ablehnung."

Möglich wäre das, weil ein System wie das zur Mautabrechnung ein digitales Abbild der physischen Wirklichkeit in neuer Qualität liefern kann: Alle Daten sind nahezu in Echtzeit verfügbar. Drei Eigenschaften des Systems sind der Grund dafür: Die zu erfassenden Objekte haben individuelle Kennungen, sie teilen diese automatisch der Umwelt mit, und die entsprechenden Datensätze werden zentral gespeichert und ausgewertet.

Ähnliche Eigenschaften haben viele neue Technologien. So die derzeit in den Vereinigten Staaten diskutierten Radio-Frequency-Identification-Chips, mit denen Unternehmen Lagerbestände von einzelnen Rasierklingen bis hin zu wertvollen Express-Sendungen minutiös überwachen können. Die Einführung des Mautsystems in Deutschland zeigt die Vor- und Nachteile solcher Systeme.

Eine maschinenlesbare Umwelt bietet viele Vorzüge. In London hat sich ein im Februar eingeführtes Mautsystem bewährt. Laut der britischen Tageszeitung The Independent sank schon im März das Verkehrsaufkommen um ein Fünftel. Genau das sollte das System – neben Einnahmen von gut drei Milliarden Euro binnen zehn Jahren – erreichen. Denn immerhin war die Durchschnittsgeschwindigkeit des Innenstadtverkehrs von knapp 20 Stundenkilometern im Jahr 1903 auf nur 14 Stundenkilometer heute gesunken.

Neben zusätzlichem Geld für den klammen Bund könnte ein Erfassungssystem wie das von Toll Collect betriebene auch Verkehrsmodelle verbessern. Der Forscher Justin Geistefeldt vom Lehrstuhl für Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum sieht Chancen in der Totalerfassung: "Man kann den Verkehrsfluss nicht mehr nur lokal beobachten, sondern die Fahrt jedes Lastwagens vom Start bis zum Ziel nachvollziehen und dabei vielleicht auch detailliertere Daten zum jeweiligen Lkw-Typ erheben. Damit könnten genauere Verkehrsnachfrage- und -prognosemodelle entwickelt werden." Unter einer Voraussetzung: "Für Untersuchungen des Verkehrsablaufs auf Autobahnen werden in aller Regel die Daten sämtlicher Fahrzeuge benötigt." So lange also Autos nicht miterfasst werden, bleibt der hypothetische Nutzen für die Wissenschaft gering.

Kompletterfassung ist auch möglich, ohne dass jedes Fahrzeug identifiziert wird. Das zeigt ein Projekt, bei dem 2500 Datenerfassungsanlagen die Verkehrssituation auf den gut 2250 Autobahnkilometern Nordrhein-Westfalens überwachen. Auf der Internetseite autobahn.nrw.de kann man üblicherweise das aktuelle Verkehrsaufkommen abrufen und eine Prognose für die nächsten 30 Minuten betrachten.

Wie jede technische Neuentwicklung weckt das Mautsystem Sorgen über möglichen Missbrauch. Der Grund dafür ist die zentrale Speicherung der nicht anonymen Datensätze. Sie stört Experten wie den Bonner Professor für Informationssicherheit Hartmut Pohl, der sich bei der Gesellschaft für Informatik mit dem Thema beschäftigt. Er sieht technische Alternativen, mit denen sich die Maut ohne die zentrale Speicherung persönlicher Daten abrechnen ließe. Eine Möglichkeit wären im Voraus bezahlte Karten. Die gefahrenen Strecken ließen sich zwecks Abrechnung dezentral speichern, etwa auf einer Chipkarte beim Nutzer. Da solche Lösungen ähnlich effizient sind wie die zentrale und Verkehrsforschung auch mit anonymen Daten möglich ist, vermutet Hartmut Pohl andere Gründe hinter der politischen Entscheidung für ein zentralisiertes System: "Ganz konkret erwarte ich binnen kurzem nach Inbetriebnahme des Systems die Forderung von Polizei und Sicherheitsbehörden, die Daten vollständig und in Realzeit auswerten zu können."

Da die Federführung für das Mautsystem beim Bundesverkehrsministerium liegt, ist der Bundesbeauftragte für den Datenschutz verantwortlich. Joachim Jacob sieht aktuell keinen Grund zur Panik: "Die Regelungen im Autobahnmautgesetz zur Verarbeitung der Daten entsprechen dem datenschutzrechtlichen Grundsatz der Datensparsamkeit. Eine generelle Verkehrsüberwachung oder auch die Erstellung von Bewegungsprofilen sind aus meiner Sicht ausgeschlossen." Doch Entwarnung gibt Jacob nicht, vielmehr heißt es im aktuellen Tätigkeitsbericht, dass er alle Änderungen auf diesem Gebiet kritisch begleiten will. Denn: "Jede Erweiterung der Mautpflicht oder der Kontrollmaßnahmen unterliegt dem Gesetzesvorbehalt und damit auch meiner Einflussnahme."

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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