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Am Strand von Amsterdam (Freitag, 19.04.2002)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Am Strand von Amsterdam

NICHT STADT, NICHT LAND – Im Nordwesten der Niederlande sollen zwölf Städte eine "Deltametropool" bilden – sie könnten Vorbild sein für eine neue Form von urbanem Leben

Freitag, 19.04.2002

Wird die erste europäische Metropole dieses Jahrhunderts unter dem Meeresspiegel liegen? Sagen wir, so um die fünf Meter? Dafür sprechen allein schon die Kanäle im Nordwesten der Niederlande. Sie durchziehen Amsterdam, Den Haag, Leiden, Haarlem, Delf, Rotterdam und Utrecht und verbinden diese Orte im Rheindelta seit einer kleinen Ewigkeit zu etwas jenseits der Begriffe Stadt und Region. Über Siedlungsgrenzen hinweg begannen die Bewohner dort schon im elften Jahrhundert, Kanäle, Deiche und Schleusen zu planen. Dadurch hat das Land ein Fünftel seiner heutigen Fläche gewonnen. Jetzt könnte diese traditionelle Kooperation Europa nicht nur eine neue Metropole, sondern vor allem eine neue Definition dieses Begriffs bescheren: Die Vereinigung von zwölf Städten und sechs Millionen Einwohnern in einem Umkreis von etwa 80 Kilometern zur "Deltametropool". Diese Vision konkretisiert das neue niederländische Raumordnungsgesetz für die kommenden zwei Jahrzehnte. "De Vijfde Nota" heißt es, Ende November letzten Jahres wurde es vom Kabinett beraten.

Es ist erstaunlich, wie selbstverständlich jetzt in den Niederlanden Deltametropool diskutiert wird. Bis vor kurzem sprach man über jenes Siedlungsdreieck zwischen Amsterdam, Rotterdam und Den Haag noch als "Randstad". In deren Mitte, dem sogenannten grünen Herzen, siedelten und siedeln sich immer mehr Menschen an, Arbeit und Freizeit jedoch finden weiterhin zum größten Teil in den Städten statt. So sind sogar die neuen Städte Almere und Lelystad auf dem vom Ijsselmeer abgetrotzten Land gewissermaßen Vororte von Amsterdam. Die Zersiedlung ist die Folge niederländischer Raumplanungspolitik. Ihr Ziel war bis in die neunziger Jahre die gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung auf möglichst weit verstreute Sieldungsflecken. Es entstand, was in den Vereinigten Staaten "sprawl" genannt wird: Ein Siedlungsfleck ohne ästhetische Idee, ohne strukturgebendes raumplanerisches Konzept.

Grün ist das grüne Herz der Randstad heute längst nicht mehr, eher fleckig. Immer mehr Menschen wollen hier wohnen, bis zum Jahr 2030 soll die niederländische Bevölkerung um gut zwölf Prozent wachsen und ein Fünftel der heute landwirtschaftlich genutzten Fläche aufgegeben werden. Soll die Randstad nicht bald als hingeklatschter Fleck enden, ist eine neue Idee des urbanen wie suburbanen Lebens nötig.

Die gibt es. Stadtplaner wie Professor Dirk Frieling von der Technischen Universität Delft vertraten schon Mitte der neunziger Jahre eine betörende Idee: Der Nordwesten der Niederlande dürfe nicht mehr als stark besiedelte Region gedacht werden, sondern als dünn besiedelte Stadt – Deltametropool war geboren. Im Februar 1998 hielten Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht in einer gemeinsamen Erklärung fest, dass ihre Zukunft allein eine Deltametropolis ist. Im Februar 2000 gründeten dann die zwölf Städte der Randstad mit mehr als 100.000 Einwohnern die "Vereniging Deltametropool", die konkrete Entwürfe für Straßenbau, Nahverkehr und Wasserinfrastruktur erarbeitet. Grundlegendes Ziel aller Entwürfe: Jeder Ort innerhalb von Deltametropolis ist binnen einer Stunde erreichbar.

Ist das alles? Wasser, Nahverkehr und ein schicker Name? Wird Deltametropolis nicht ausschließlich in Werbebroschüren – und vielleicht einigen entflammten Köpfen – existieren? Im Gegenteil, es ist gerade die Nüchternheit, die Grund zum Hoffen auf Deltametropool gibt. Denn wer von Metropolen schwärmt und dabei an den Mythos Berlin oder Paris denkt, der sehnt sich nach einer sehr fernen Vergangenheit. Vielleicht sogar nach jener Zeit, als Metropolen hauptsächlich von der Religion bestimmt wurden. Im antiken Griechenland definierten sich neue kleine Stadtgründungen vor allem durch die Übernahme der Götterwelt ihrer jeweils größeren "Mutterstadt", der Metropolis. Im Christentum ist der Bischofssitz äquivalent mit Metropolen. Gerade das Beispiel Rom zeigt die zwei engverwobenen Aspekte dieses Metropolenbegriffs: Konzentration politischer Macht, die Aufmerksamkeit für dort produzierte kulturelle Leitbilder schafft.

In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde gerade in Berlin eine neue Art der Metropole sichtbar. Alfred Döblin beschreibt in Berlin Alexanderplatz die Stadt als Text, als Zeichensystem, das aus Presse, Werbung, Dialekt und Jazz entsteht. Ob dieser Text nun mit Franz Biberkopf als Moloch gelesen wird oder nicht – die Metropole ist notwendig als Kristallisationspunkt der Gedanken über Möglichkeiten der Moderne. Der ganz konkrete Ort ist dabei eher nebensächlich. Mit dem heutigen Berlin, das allein als Projektionsfläche politischer Macht wieder interessant wurde, hat das wenig zu tun.

Die Soziologien Saskia Sassen machte Mitte der neunziger Jahre auf eine neue Definition von Metropolen im Rahmen der Globalisierung aufmerksam: Zentralität sei trotz neuester Informationstechnologie für bestimmte Wirtschaftszweige noch bedeutend, und zwar für die Bereitstellung von Dienstleistung. Die Wirtschaftsgeografie schafft Metropolen, aber sie braucht keine Städte mehr, sie produziert mehr Infrastruktur, mehr umsatzstarke Firmen – mehr vom gleichen statt mehr Unterschiede.

Heute fällt die Unterscheidung von Stadt und Land schwer. Auf dem Land existieren Konsummöglichkeiten und Medienangebote, die früher Städte charakterisierten. In Städten hingegen finden Arbeit, Konsum und Leben unterschiedlichster sozialer Gruppen nur noch in den Innenstädten statt. Zu den Rändern hin wird in allen Städten die Macht des großen Verländlichungsprojekts Suburbia spürbar. Das Wohnen hier ist gerade durch den Kontrast zu den Eigenschaften der Stadt definiert: Es ist ruhig, es gibt wenig Verkehr, wenig Läden, wenig Lokale, die Gefahr auf Angehörige anderer sozialer Schichten zu treffen, ist recht gering. Es reicht heute nicht mehr, die Metropole als Projektionsfläche innovativer Lebensformen im Gegensatz zum Land zu definieren. Im Gegenteil: Diese Kontrastierung hat den Städten geschadet. Leben findet in ihren Rändern nicht mehr statt, die einzige Form des Erlebens ist zum Beispiel in den französischen Banlieues Kriminalität.

Gerade deshalb kann Deltametropool Vorbild neuer Metropolen werden. Das Gegeneinandersetzen von Stadt und Land, von Wohnen und Arbeiten ist hier nicht möglich. Die Kanäle, welche Deltametropolis durchziehen, sind das Sinnbild dafür. Wenn die heutige Randstad allein als Stadt begriffen und entwickelt wird, ist sie am Ende. Da das Gebiet unterhalb des Meeresspiegels liegt, sind vor allem im Winter große Grünflächen für eine kontrollierte Überflutung und Versickerung nötig. Es ist unmöglich, große Flächen ausschließlich für Erholung, Wirtschaft oder Verkehr auszuweisen, vielmehr muss die ländliche Beschaulichkeit des grünen Herzens mit Urbanität verbunden werden. Das pittoreske Gouda, der Finanz- und Touristen- und Verkehrsknotenpunkt Amsterdam, die alte Universitätsstadt Leiden, das ruhige Verwaltungsstädtchen Den Haag, der Industrie- und Handelsgigant Rotterdam und die Bauernhöfe mit durchschnittlich 40 bis 60 Kühen auf dem Land dazwischen – wenn diese heterogenen Siedlungsstile ineinander wachsen, wird aus den Rändern eine wahre Metropole im Sinne neuer, exemplarischer sozialer Erfahrung entstehen.

Deltametropool wird nicht durch ein Raumplanungsgesetz entstehen. Man kann sie heute schon erleben, zum Beispiel, wenn Amsterdamer schwimmen gehen. Nämlich ins Küstenstädtchen Zandvoort, das 30 Zugminuten westlich hinter Harleem liegt, aber "Amsterdams Strand" heißt.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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