Anarchie, fußballfeldgroß (Tagesspiegel, 9.6.2000)
Der weltweit erste selbsternannte Datenhimmel ist gerade mal so groß wie ein Fußballfeld. 140 mal 40 Meter, so groß ist eine als Sealand (www.sealandgov.com) bekannte Stahlbetonplattform im Atlantik, knapp zehn Kilometer vor der britischen Küste von Suffolk. Im Zweiten Weltkrieg für die britische Luftabwehr außerhalb der Territorialgewässer hochgezogen, wurde sie nach Kriegsende verlassen. Nun hat die auf der westindischen Insel Anguilla, einer britischen Kronkolonie mit einigen Offshore-Banken, beheimatete Firma HavenCo (www.havenco.com) hier am Montag über Satellit mit dem Internet verbundene Hochleistungsserver in Betrieb genommen. Ziel: gute Infrastruktur, Datensicherheit und absolute Deregulierung. Im Herbst soll die Testphase beendet sein, weitere offshore- Standorte sind geplant.
„Technologie hat es einfacher gemacht, Informationen zu verschieben und zu verbergen. Bald wird es unmöglich sein, herauszufinden woher Geld kommt und wer welches hat“, beschreibt HavenCo Mitgründer Sean Hastings (32) die Zukunft, an der sein Unternehmen mitarbeitet. Hastings hat auf Anguilla bereits an einem Sportwettensystem für steuerfreie offshore- Anbieter gearbeitet. Er prognostiziert hohen Bedarf für die Dienstleistungen von HavenCo: E-Commerce Firmen bräuchten verlässliche Infrastruktur, die momentan nur in Staaten zur Verfügung stehe, wo hohe Kosten durch Steuern und Informationsregulierung anfielen. Potentielle Kunden von HavenCo seien e-Commerce Firmen, Anbieter von über das Internet mietbarer Software (ASP – Application Service Providing) und alle Firmen, die Daten verarbeiten. Beispielsweise eMail-Dienste und Diskussionsforen die ihre Server auslagern, um nicht wegen möglicher illegaler Inhalte belangt zu werden.
HavenCo erwartet durchaus, dass Kunden sich diesen Service etwas kosten lassen: In der Testphase kostet der eigene Server 10000 US-Dollar, plus einer Bebühr von bis zu 5000 Dollar. Die Anmeldung erfolgt übers Netz, die Bezahlung über Kreditkarte. Unkompliziert und so anonym wie möglich.
Interessant am Angebot von HavenCo ist nicht die Sicherheit vor Hackern sondern die vor Gesetzen. „Ein Geschäft im Internet zu betreiben bedeutet, dass das politische System mindestens so verlässlich wie das Computersystem sein muss“, erklärt Hastings: „Bisher war Internetpolitik nicht so sicher und stabil und sicher wie Computersysteme, wir sind stolz, dass erste Umfeld anzubieten, in dem online- Geschäfte florieren können.“ Das sieht Harald Summa, Geschäftsführer des deutschen E-Commerce Forums (www.eco.de ) anders: „Momentan ist die Regulierung nirgends so stark, dass sie das Geschäft bremst.“ Vor diesem Hintergrund hat aus seiner Sicht das Angebot von HavenCo zwei Nachteile: „Bei wirklich hohen Nutzerzahlen reicht eine Anbindung über Satellit nicht aus, da muss man für eine vernünftige Bandbreite an den Knotenpunkten des Internets sitzen. Durch die isolierte Insellage sind die Datenleitungen außerdem sehr leicht zu blockieren. Bei illegalen Daten aus Russland geht das nicht, da die Anbieter ständig ihre Standorte wechseln.“ Bis eine einheitliche Ertrags- und Umsatzbesteuerung von E-Commerce existiert, rechnet Summa noch mit einigen Jahren. Konkrete Bestrebungen gäbe es bereits in der EU, aber dass die Bahamas momentan die weltweit beste Kommunikationsinfrastruktur hätten, spräche für sich. Nur: „Für Firmen die Gesetze durch Kooperation mit Freischärlern umgehen, kann das in einzelnen Staaten einmal böse Konsequenzen haben.“ Deshalb werde auch hier das Interesse eher gering sein.
Genauer auf dieser Ebene versucht auch das Bundesjustizministerium, Einfluss zu nehmen. Ministeriumssprecher Christian Arns stellt fest: „Wenn etwas in anderen Staaten erlaubt ist und in Deutschland verboten, kann man das kaum ändern.“ Schon auf G8 oder EU-Ebene braucht Rechtsharmonisierungen viel Zeit. Deshalb macht man auf anderen Ebenen Druck. Die US-Buchhandlungen Amazon.com und Barnes & Noble beispielsweise liefern „Mein Kampf“ nicht mehr nach Deutschland. In den USA ist der Verkauf legal, somit kann Deutschland bei der Strafverfolgung auch nicht mit Unterstützung durch US-Behörden rechnen. Da aber Amazon.com eine deutsche Tochterfirma hat und Bertelsmann an Barnes & Noble beteiligt ist, reichten Briefe der Justizministerin an ihre US-Kollegin und die Unternehmen. Es bestehen also durchaus Einflussmöglichkeiten außer der Strafverfolgung.
Im konkreten Fall Sealand ist zudem umstritten, ob die Luftabwehrplattform tatsächlich souverän ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg verließ die britische Armee das Eiland. Am 2. September 1967 besetzte der ehemalige britische Major Roy Bates die Insel und proklamierte die Unabhängigkeit. Er ernannte sich zum Prinzen und seine Frau zur Prinzessin des Fürstentums Sealand. Die britische Regierung klagte. Im November 1968 entschied das Gericht in Essex, es sei nicht zuständig für den Fall, da Sealand außerhalb der Drei-Meilen-Zone britischer Territorialgewässer und somit außerhalb britischer Rechtssprechung liege. Einen Staat macht das noch nicht aus. Professor Georg Nolte vom Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen urteilt: „Sealand ist kein souveräner Staat, da dieser eine Bevölkerung und eine Regierung voraussetzt. Außerdem befindet sich die künstliche Insel im Bereich der ausschließlichen Wirtschaftszone Großbritanniens, was nach Artikel 60 der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen bedeutet, dass Großbritannien die ausschließliche Hoheitsgewalt einschließlich des Rechts zu Zwangsmaßnahmen dort hat. Wenn also Großbritannien die Server durch einen Polizeieinsatz lahm legt, wird das Völkerrecht nicht verletzt. Ein Militäreinsatz wäre aber unverhältnismäßig und ist nicht notwendig.“
Das kann durchaus der Fall sein, wenn HavenCo zum Refugium zwielichtiger Internetangebote wird. Zwar steht in den Geschäftsbedingungen, man werde Material wie Kinderpornographie und Massenemails nicht dulden, eine Kontrolle der Inhalte durch HavenCo werde es aber keinesfalls geben.