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Aufstand im sozialen Netz: Facebook-Fans kämpfen für korrekte Grammatik (Spiegel Online, 21.11.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Aufstand im sozialen Netz

Facebook-Fans kämpfen für korrekte Grammatik

Verrückte Facebook-Welt: Dass Werber nach Belieben Profilseiten flöhen, stört nur wenige, dass nach Gusto die Grammatik aufgemischt wird, schon. In einer bisher beispiellosen Revolte fordern Hundertausende grammatikalische Zugeständnisse von Facebook: "Ist" ist out.

Spiegel Online, 21.11.2007

Sie sind wütend – aber warum? Mehr als 165.000 Facebook-Mitglieder haben eine Petition unterzeichnet, deren Sinn ein Außenstehender nicht auf Anhieb versteht: Das Verb "ist" soll als Zwangselement aus der Selbstbeschreibung auf Profilseiten verschwinden. Facebook folgt dieser Forderung der empörten Online-Demonstranten nun offenbar. Bislang muss jeder, der seinen Facebook-Freunden mitteilen will, was er gerade tut, eine Zwangs-Textschablone ergänzen. Die beginnt so: "Bill ist…". Im Englischen kann man mit diesem Anfang und etwas Kreativität fast alles sagen – man muss sich nur etwas anstrengen und statt "Bill will ein iPhone haben" etwas wie "Bill ist verzweifelt, nur ein iPhone kann ihn aufmuntern" formulieren. Gegen diesen Formulierungs-Zwang protestieren Facebook-Mitglieder seit Monaten.

Die größte dieser Protestgruppen bei Facebook heißt "Petition, um das ‘ist’ aus dem Status-Update zu verbannen". Gründungsbotschaft der inzwischen starken Truppe: "Wir können die Tatsache nicht ertragen, dass Facebook uns zwingt, das Wort ‘ist’ zu benutzen".

"Die Poesie stirbt"

Die Zwangs-Verb-Gegner fordern: Weg damit! Dieselbe Stoßrichtung hat die norwegische Gruppe "Ja til å fjerne ‘is’ fra statusfeltet i Facebook" mit immerhin fast 27.000 Mitgliedern. Die Ist-Verteidiger sind in der Minderheit, nur gut 400 Mitglieder ärgern sich über mangelnde sprachliche Kreativität der Ist-Gegner und erklären: "Wer das ‘ist’ loswerden will, ist einfach nicht kreativ genug, um einen Satz zu formulieren, der mit ‘____ ist’ beginnt."

Anfang der Woche verkündete Facebook in seinem Nachrichten-Kanal für Programmierer: Bei der Schnittstelle, über die man Facebooks Status-Nachrichten anderswo im Netz einbinden kann, werde in Zukunft das Zwangs-"ist" verschwinden und durch eine Variable für ein beliebiges Verb ersetzt. Umgesetzt ist die Änderung für Nutzer derzeit noch nicht. Und ein Facebook-Sprecher wollte die Änderung auch nicht dem Blog Valleywag bestätigen.

Der Anfang vom Ende des Zwangs-"ist"? Die Facebook-Demonstranten feiern schon ihren Erfolg, das Web-Magazin "Wired" gratuliert: "Glückwunsch Kampagnen-Macher, ihr habt gewonnen!" Die Wahrer der Netzkultur bei Salon.com warnen: "Die Poesie stirbt". Blogs debattieren das Für und Wider und nur Tech-Blogger Michael Arrington bemerkt kühl: "Die Blogosphäre braucht Urlaub".

Verb-Zwang interessiert mehr als Datenschutz

In dieser Aufregung um ein Verb geht Facebooks Schnüffel-Offensive ein wenig unter: Vor zwei Wochen versprach Facebook-Gründer Mark Zuckerberg in New York den wichtigsten Facebook-Werbekunden ein "Interface, um Erkenntnisse über die Facebook-Aktivitäten von Mitgliedern zu sammeln, die fürs Marketing relevant sind".

Beacon hat Facebook dieses Projekt für personalisierte Werbung getauft. In den Facebook-Gruppen ist dagegen nur wenig Protest zu finden: Eine Suche nach den Schlagworten Beacon und Datenschutz findet sieben Gruppen mit zusammen 4600 Mitgliedern.

Die größte davon ist die von mehr als 4300 Mitgliedern unterzeichnete Petition "Facebook, hör auf, in meine Privatsphäre einzudringen".

Gegründet hat diese Gruppe allerdings nicht etwa ein normales Facebook-Mitglied wie bei den Petitionen gegen das Zwangs-Verb, sondern eine professionelle Bürgerrechtsgruppe: Die liberale US-Graswurzelbewegung MoveOn.Org hat eine Kampagne gegen die neuen Werbemethoden bei Facebook gestartet.

Permanente Selbstentblößung stumpft ab

MoveOn hat 3,3 Millionen Mitglieder, über das Internet haben die Aktivisten in den vergangenen zwei Jahren schon 27 Millionen Dollar von 600.000 Einzelspendern eingeworben. Diese Profi-Organisation hat den Protest gegen die Facebook-Offensive auf eine neue Stufe gebracht – die zuvor angelegten Nutzergruppen wie "Facebook ist ein Werkzeug zur Marktforschung" oder "Facebook spioniert uns nach" haben nur 20, beziehungsweise 70 Mitglieder.

MoveOn trägt den Protest von außen ins Facebook-Netzwerk. Warum der Gegenwind nicht in den Facebook-Foren selbst so groß geworden ist wie zum Beispiel beim Zwangs-Verb? Vielleicht, weil eine gewisse Selbstentblößung zum Funktionsprinzip von Facebook gehört.

Das scheint abzustumpfen – Mitte November ging das Bild des New Yorker Bankmitarbeiters Kevin Colvin durchs Web, der sich bei Facebook auf einem Partyfoto im Feen-Kleid präsentierte. Aufgenommen wurde das dummerweise zu einer Zeit, als er wegen "familiärer Angelegenheiten" am Arbeitsplatz fehlte. Wenn Angestellte wie Colvin da nicht auf Anhieb das Datenschutz-Problem erkennen – warum sollten sie sich da über personalisierte Werbung aufregen?

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Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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