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Baukasten werden (Frankfurter Rundschau, 19.04.2002)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Baukasten werden

Auf die Erzählung folgt die Simulation: Wie die neuesten Computerspiele wie Civilization 3 beginnen, ein neues Weltbild zu propagieren

Frankfurter Rundschau, 19.04.2002

Es gab eine Zeit, da reichte ein Satz, um Ziel und Funktionsprinzip eines Computerspiels zu beschreiben. "Avoid missing ball for highscore", lautete 1973 die Anleitung des legendären Spielautomaten Pong. Auch in den neunziger Jahren gaben die meisten Programme ihren Spielern feste Ziele vor und eröffneten ihnen eine beschränkte Anzahl von Handlungsoptionen, um diese zu erreichen. Das Spiel bestand vor allem darin, zur richtigen Zeit seinen Spielcharakter die richtigen Bewegungen ausführen, die richtigen Sätze sagen oder die richtigen Gegenstände benutzen zu lassen. Dadurch wurde in erzählenden Spielgenres die Handlung als Abfolge von Aktion und Reaktion vorangetrieben.

Es war eine Zeit der Selbstvergewisserung: Als Literatur wollten die Textabenteuer begriffen werden, als Film die Grafikadventures. Und fast alle Genres bedienten sich der Mittel der darstellenden Kunst. Langsam aber wird dies alles Vergangenheit. Immer mehr Spiele lassen heute das Erzählen hinter sich und suchen jenseits der Traditionen darstellender Kunst nach ihrer eigenen Sprache und nach Dingen, die nur in ihr gesagt werden können.

Spiele wie Die Sims, Black and White, Anarchy Online und das vor kurzem erschienene Civilization 3 geben ihren Spielern kein von Anfang an fixes Ziel vor, oder haben nicht einmal mehr ein anzustrebendes Ende, welches das Spiel tatsächlich abschließt. Vielmehr erinnern diese neuen Spiele an Versuchsanordnungen, die vom Spieler immer wieder neu aufgebaut und durchgespielt werden.

In Civilisation 3 hat der Spieler ein vergleichsweise konkretes Ziel – die Entwicklung einer Zivilisation. Den Reiz des Spiels macht aber nicht das Ende aus. Denn nach einer beendeten Partie – wenn man etwa kulturelle Hegemonie errungen, das Weltall besiedelt, militärisch dominant ist oder die Erde diplomatisch kontrolliert – verlangt es den Spieler sogleich nach der nächsten. Je öfter das Spiel wiederholt wird, desto mehr Spaß macht es, weil der Spieler langsam den Prozess begreift, der zum Ende führt, ohne ihn aber jemals völlig kontrollieren zu können. So viele Variablen beeinflussen den Spielverlauf, dass eine Handlungseffizienz des Spielers nach dem Muster, in entscheidenden Momenten die richtigen Aktionen durchzuführen, unmöglich ist. Stattdessen gehen die Entscheidungen des Spielers in einen größeren Prozess ein, aus dem der Spielverlauf resultiert.

Ähnlich, vielleicht sogar etwas radikaler, funktioniert das Spiel Die Sims. Hier gibt es überhaupt kein Szenario, das man als Spielziel auffassen kann. Die Sims ist eine Simulation suburbanen Lebens. Der Spieler kontrolliert das Leben einiger relativ normaler Menschen: Er kann ihre Wohnungen einrichten, sie in Urlaub fahren lassen und viele andere Variablen verändern, die das so genannte Leben dieser Wesen beeinflussen. Sie können Karriere machen oder nicht, sie können sich verlieben oder an Liebeskummer leiden, sie können viele Freunde haben oder recht einsam ihr Dasein fristen. Das Ziel des Ganzen? Der Spieler muss sein eigenes finden.

Das zentrale Element von Civilization 3 und Die Sims ist nicht die Erzählung, sondern die Simulation. Und das ist nur folgerichtig. Vielleicht können Computerspiele uns nämlich mehr über unsere Welt erzählen, wenn sie das tun, wozu Computer prädestiniert sind: bestimmte Gesetzmäßigkeiten nachzuahmen und die durch sie bedingten Prozesse ablaufen zu lassen. Das stellte vor einigen Jahren der renommierte Spieldesigner Brian Moriarty fest, als er sagte: "Anders als jedes frühere Medium können Computerspiele den Menschen etwas verdeutlichen, indem sie sie es durchleben lassen."

Natürlich kommen auch die heutigen Computerspiele nicht ganz ohne narrative Elemente aus. Jede Spielpartie in Civilization 3 erzählt die ganz eigene Geschichte einer Welt. Es gibt auch Spiele, die sich einer anderen Methode zur Kombination von Simulation und Erzählung bedienen. In ihnen werde einfache dynamische Erzählstränge durch die Interaktion computergesteuerter Spielcharaktere geschaffen. Dabei entwirft der Programmierer keineswegs einen Handlungsstrang, der durch bestimmte Aktionen des Spielers vorangetrieben wird. Stattdessen stattet er die vom Computer gesteuerten Spielcharaktere mit hierarchisch aufgebauten Systemen von Bedürfnissen, Anliegen und Handlungsmöglichkeiten aus. Das Handeln der computergesteuerten Spielcharaktere hängt daher voneinander, den Gegebenheiten der Spielwelt und natürlich den Aktionen des Spielers ab.

Eben solche Simulationsprozesse könnten am Ende die Sprache werden, in der Computerspiele Wissen über die Welt vermitteln. Henry Jenkins, Literaturprofessor und Leiter des Programms für vergleichende Medienwissenschaft am Massachusetts Institute of Technology (MIT) zog vor kurzem ein erstaunliches Zwischenfazit des Forschungsprojekts "Games to Teach": "Einige der erfolgreichsten Spielreihen – Civilisation, Simcity, Railroad Tycoon – haben gezeigt, wie Spiele komplexe soziale, wissenschaftliche und ökonomische Prozesse modellhaft nachbilden können." Natürlich beschneiden gewöhnliche Spiele die Komplexität und Realitätstreue ihrer Modelle oft zu Gunsten leichter Bedienbarkeit und des Unterhaltungswerts. Dennoch ist Jenkins überzeugt, dass Spiele im Prinzip ideale Lernmittel sind, weil sie statt Gesetze zu vermitteln, Prozesse erfahrbar machen. Jenkins provokante These: "Wie sollen wir Kindern Newtonsche Physik beibringen? Ganz einfach: mit Computerspielen."

Lernen kann man in Spielen wie Civilization 3 oder Black & White aber noch etwas viel grundlegenderes: eine neue Art des Denkens von Gesellschaft und all ihrer Teilsysteme. Zunächst scheinen Spiele wie Civilization 3 Allmachtsfantasien bei ihren Spielern zu fördern, weil sie ihnen eine fast totale Kontrolle der Spielwelt zu ermöglichen scheinen. Auf den zweiten Blick aber wird deutlich, dass die Spielerfahrung gleichermaßen von den Handlungen der Spieler, ihren Interaktionen mit den computergesteuerten Spielcharakteren, einer Vielzahl anderer Variablen und den Gegebenheiten der Spielwelt resultiert. Keiner der Faktoren bestimmt allein den Ablauf des Spiels. Ihn zentral zu planen, ist unmöglich. Auf Grund dieser von unten nach oben verlaufenden Prozesse, die ohne zentrale Steuerung eine Ordnung höhere Qualität hervorbringen, fördern diese Spiele ein neues Weltbild.

Ein Weltbild, das zum Beispiel Klaus Mainzer, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik, schon vor einigen Jahren in einem Interview gefordert hat: "Wenn ich die Reaktion in der politischen Öffentlichkeit sehe, dann geistert bei uns immer noch die Vorstellung herum, dass der starke Mann oder die starke Frau endlich mal Ordnung schaffen könnte. Aber das ist eine Illusion. Die gute Absicht pervertiert im komplexen System. Gutes zu meinen und zu wollen, reicht nicht aus. Die nichtlineare Dynamik mit ihren Effekten, die nicht voraussehbar sind, ist eine Botschaft, die der Öffentlichkeit vermittelt werden muss. Wir brauchen zwar Mut für die Entscheidung, aber auch Sensibilität im Umgang mit solchen komplexen Systemen."

Mit Hilfe von Computersimulationen haben Sozialwissenschaftler in den vergangenen Jahren viele Phänomene erforscht: Kriege, Kulturrevolutionen, Bevölkerungsexplosionen, mögliche Entwicklungsgeschichten der Anasazi-Indianer und Genozide. Wenn lineare Systeme als Modell nicht mehr ausreichen, um Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, werden oft Computersimulationen verwendet. Diese Modelle in das Bewusstsein der Menschen zu bringen, kann zur großen Aufgabe der Computerspiele werden.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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