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Benzin für die Kettensäge (Frankfurter Rundschau, 24.11.2000)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Benzin für die Kettensäge

Computerspiele zwischen Lesen und Schießen

Frankfurter Rundschau, 24.11.2000

Vergleicht man einen Film mit Computerspielen, ist das meist als Beleidigung gemeint: Statt in ausgefeilten Charakteren und Geschichten werde dem Zuschauer sein Eintrittsgeld in Action und atemberaubenden Bildern zurückgezahlt. Doch das tut Computerspielen Unrecht. Kein anderes Medium hat sich in so kurzer Zeit durch technische Entwicklung so gewandelt. Computer sind schnell, billig und populär geworden, sie piepsen, brummen und dudeln, zeigen Bilder, spielen Filme ab. Heutige Spiele betonen die audiovisuelle Perfektion. Welch langen Weg das Computerspiel in den letzten zehn Jahren durchmessen hat, kann man am Beispiel des vor kurzem in Deutschland erschienene Titel Flucht von Monkey Island sehen.

Der erste Teil der Reihe ließ 1990 durch eine simple zweidimensionale Darstellung viel Raum für die Vorstellung des Spielers. Aktionen wurden als Sätze mittels eines Wortmenüs formuliert. Der aktuelle, vierte Teil dieser Spielreihe hat eine dreidimensionale Grafik wie ein Konsolenspiel: Nie waren Charaktere und Landschaft so deutlich zu erkennen. Und doch ist der technische Fortschritt ein Rückschritt – was die Souveränität des Spielers betrifft. Denn am Anfang war das Wort. Frühe Computerspiele haben viel mit Literatur gemeinsam. Der Spieler ist ebenso ein Leser. Satz für Satz muss er sich eine Welt erarbeiten, mit der er über Textbefehle interagieren kann.

"Go north" muss er etwa eintippen, oder "open door". Der Begriff "Adventure" für dieses Genre stammt von Collosal Cave Adventure, einem der ersten Computerspiele überhaupt und dem allerersten seiner Art. Geschrieben hat es 1976 der Programmierer William Crowther als Unterhaltung für seine Kinder. Der Spieler erforscht ein immenses unterirdisches Höhlenlabyrinth, sammelt Schätze und benutzt magische Worte. Inspiriert hat Crowther dabei nicht so sehr seine Freizeit als Höhlenforscher, sondern Tolkiens Romanepos Der Herr der Ringe. Über das Apranet, den damaligen Vorläufer des Internets, wurde das Programm verbreitet. Die Beliebtheit der Tolkien-Welt trug viel zum Erfolg des Spiels bei. Studenten wie Don Woods schrieben es um und erweiterten es um Elemente aus Mittelerde.

Der Reiz dieses Spiels liegt in der Souveränität des Rezipienten. Weil die Fiktion technisch nicht perfekt ist, interagiert der Spieler mit ihr. So schafft er sie zu einem Großteil selbst. Das Spielen ist am ehesten mit dem Prozess des Lesens zu vergleichen. Spiele wie Collosal Cave Adventure wurden in den 70er und 80er Jahren sehr populär. Sie erschaffen eine Welt aus Worten. Die Nähe zur Literatur zeigt sich bei Titeln der Firma Telarium, einem der ersten Unternehmen, das mit Computerspielen Geld verdiente, am deutlichsten: Fast alle Telarium-Spiele basieren auf Werken von Autoren wie Arthur C. Clarke oder auch Agatha Christie. Ray Bradbury wirkte 1984 sogar an der Umsetzung von Fahrenheit 451 mit. Eigens für das Computerspiel schrieb er eine einleitende Geschichte, die beginnt, wo das Buch endet. Bestsellerautor Michael Crichton entwarf 1982 für dieselbe Firma ein Spiel, das auf seinem Roman Congo basiert. Aufgabe des Spielers ist es herauszufinden, was mit einer im südamerikanischen Urwald verschollenen Expedition geschah.

Auch Douglas Adams machte 1984 aus seinen Roman Per Anhalter durch die Galaxis ein Computerspiel. Noch 1987 schrieb er für die Firma Infocom ein reines Text-Adventure, in dem der Spieler an der Aufgabe verzweifelt, eine Bank von seiner neuen Adresse zu überzeugen. Doch 1987 tat die Technologie einen Sprung, vergleichbar mit dem vom Stumm- zum Tonfilm. Die Zeit der allein auf Text basierenden Spiele war vorbei. George Lucas' Computerspiel-Firma LucasFilm Games brachte eine neue Spielgeneration auf den Markt. Maniac Mansion verabschiedete sich endgültig vom Text als Medium. Der Spieler führt seine Figur durch Bilder. Statt seine Aktionen einzutippen, klickt er auf Gegenstände und eine Reihe abgedruckter Verben. Ein Tür wird so geöffnet: Man klickt auf "Benutze", dann auf den Schlüssel in der Hosentasche, dann auf die Tür. Die Komplexität der Sprache ist auf wenige Wortartefakte reduziert – und so auch die potentiellen Aktionsmöglichkeiten des Spielers.

Diese Technik etablierte das Computerspiel endgültig in einem gehörigen Abstand zur Literatur. Aber noch war sie nicht so weit, ein perfekteres Abbild einer Realität zu schaffen. Und so musste eine Fiktion bestehen, die trotz aller sinnlichen Mängel eine überzeugende atmosphärische Dichte schuf. Maniac Mansion und das 1988 erschienene Zak McKracken zeichneten sich vor allem durch den anarchischen Humor des Designers Gary Winnick aus. Die Geschichten sind überdreht: Teenager müssen sich durch das Haus eines Wissenschaftler schlagen, das von Tentakeln (bei einem Experiment entstandenen Wesen) bevölkert ist und dabei die Welt retten. Die Geschichte von Zak McKracken lässt sich nicht zusammenzufassen. Sie dreht sich unter anderem um zweiköpfige Eichhörnchen, Außerirdische und Elvis. Beide Spiele sind für den bekanntesten Gag der Computerspielwelt verantwortlich: In Maniac Mansion findet der Spieler zwar eine Kettensäge, aber nirgends das nötige Benzin. Die Diskussion um das mögliche Versteck dauert noch heute an.

In Zak McKracken taucht dann ganz unerwartet Kettensägenbenzin auf – mit dem Hinweis, es wäre in einem anderen Spiel nützlich. Diese Atmosphäre erinnert an das Lebensgefühl des in der Teenagerzeit hängengebliebenen Nerds aus der Zeichentrickserie Futurama oder der Helden der Filme von Kevin Smith. Doch die Komik entsteht nur, wenn der Spieler eine Sozialisation als Computerkind mitbringt. Wie bei den frühen Spielen ist er also zu einem gewissen Teil Schöpfer der Fiktion. Wie ernst die Firma Lucas Arts das Schaffen einer Atmosphäre nahm, zeigt das 1990 erschienene Loom: Die Designer haben offensichtlich die meiste Zeit auf das Ausarbeiten der Mythologie, Geschichte und Natur einer anderen Welt verwendet. Ein kleines Buch und ein Hörspiel stimmen den Spieler ein, das Spiel wird musikalisch von Tschaikowski untermalt. Natürlich wurde hier dem Spieler viel Imaginationsarbeit abgenommen. Doch im Lauf de Spiels muss er das kleine Büchlein mit seinen Erkenntnissen der Computerspielwelt von Loom füllen – nur so kann er das Spiel bestehen. Gewissermaßen schreibt der Spieler hier sein eigenes Buch, im übertragenen wie ganz konkreten Sinne.

Lange Zeit schien Lucas Arts im Genre der Grafik-Adventures der Nachfolger legendärer Firmen der Textzeit wie Infocom und Telarium zu sein. Doch inzwischen hat die Technik reine Action-Spiele wie Tomb Raider ermöglicht. Die Grafik ist perfekt, die Bewegungen flüssig, der Klang sehr präzise. Doch bei allem vermeintlichen Realismus macht der Spieler nichts anderes als Springen, Laufen, Schießen. LucasArts hat aus den Indiana Jones zwei anspruchsvolle Adventures gemacht. Der neueste Teil allerdings hat keine ausfeilte Story, die Dialoge beschränken sich meist auf "Aha!" oder "Oh". Statt dessen wird geschossen und gesprungen.

Flucht von Monkey Island hat hingegen eine recht ausgefeilte Geschichte, die wie schon der Vorgänger von 1990 überdrehten Humor mit der sehr eigentümlichen Atmosphäre einer Pirateninsel verbindet. Doch die perfekt animierten Gesichter der Helden machen die fehlende Souveränität des Spieler deutlich. Im ersten Teil bestand das Auge des Helden aus einem blauen Punkt. Fast jeder Spieler, der das heutige perfekte Bild des Helden mit dem eigenen, damals erarbeiteten vergleicht, ist enttäuscht. Die Steuerung macht den Souveränitätsverlust ebenfalls spürbar: Wo früher für eine Aktion Sätze aus zahlreichen Worten und Gegenständen gebaut wurden, sind heute allein zwei Tasten für die Steuerung vorhanden.

Hier schreibt der Spieler nicht mehr ein Buch, wie es bei den Text-Adventuren war. Seitdem die Technik das Schaffen immer perfekterer Realitäten möglich macht, hat des eher literarischen Adventure-Genres an Reiz verloren. In Action-Spielen wie Tomb Raider ist der Spieler nicht an der Schaffung fiktionaler Welten beteiligt, sondern erfährt allein die Widerspiegelung seiner Handlungen auf dem Bildschirm einer bereits vollständig definierten Wirklichkeit. Insofern steht er im Mittelpunkt. Mehr Freiheit hat er aber nicht. Text-Adventures glichen dem Lesen und Erfahren eines Buches. Bei heutigen Spielen beschränkt sich das allein auf die Richtung der Bewegung, den Moment des Schießens oder die Kontrolle von Truppenbewegungen. Weil alles schon vorhanden ist, gibt es nichts zu erfahren.

Aufzuhalten ist diese technische Entwicklung nicht. Doch der Film hat das Theater nicht ersetzt, der Roman nicht das epische Gedicht. Auch wenn die meisten Computerspiele heute mehr mit Sport als Literatur gemeinsam haben – es gibt immer noch klassische Adventures. Im Internet hat sich eine internationale Gruppe von Zak McKracken Fans organisiert, die gemeinsam einen zweiten Teil schreibt und programmiert. Darin liegt ein Stück weit die Einlösung des Versprechens neuer Informationstechnologie: Der Rezipient als Autor.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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