Bilddatenbank im Web: Der Hausfotograf von Los Angeles (Spiegel Online, 24.4.2007)
Bilddatenbank im Web
Der Hausfotograf von Los Angeles
Der deutsche Hobby-Fotograf Martin Schall lichtet seit elf Jahren in seinem Urlaub Häuser in Los Angeles ab. Sein Bilderarchiv ist so umfangreich, dass ihn Surfer aus LA für einen Einheimischen halten.
Spiegel Online, 24.4.2007
Wenn im Zentrum von Los Angeles ein Haus brennt, ein Wolkenkratzer verkauft wird oder eine Häuserzeile abgerissen werden soll, schauen die Lokalreporter der Los Angeles Times erstmal auf einer deutschen Website nach, wie das Gebäude eigentlich aussieht. 1700 Bilder von Häusern aus Downtown Los Angeles hat der Stuttgarter Ingenieur Martin Schall geschossen und im Web veröffentlicht.
Seine Seite ist ein Standard-Recherchewerkzeug von Cara DiMassa, Lokalreporterin der "Los Angeles Times". Sie erzählt: "Wenn ich kurz vor Redaktionsschluss eine Geschichte fertig haben muss und nicht mehr rausfahren kann, schaue ich mir Martins Fotos an. Das ist für mich und viele Kollegen die erste Adresse bei Recherchen." Entdeckt haben die Redakteure Martin Schalls Seite beim Googlen einer Adresse.
So geht es vielen Einwohnern von LA: Inzwischen durchsuchen ein paar Tausend Besucher am Tag Martin Schalls Bildarchiv. 1700 Fotos sind online, sortiert nach Straßen, Gebäuden und Vierteln. Nur wenige der Betrachter merken, dass der Fotograf ein 40-jähriger Deutscher ist, der nur einmal im Jahr nach Los Angeles kommt, um in drei Wochen bis zu 5000 Fotos zu machen. Seit elf Jahren macht Martin Schall das. Jedes Jahr. Er erzählt SPIEGEL ONLINE: "Inzwischen schreiben mir die Leute, dass ich doch ihre restaurierten Villen, ihre alten Kinos fotografieren oder ihre Ausstellung besuchen soll. Viele wissen nicht, dass ich gar nicht in Los Angeles lebe.“
Martin Schall lebt nicht in Los Angeles, aber einen Touristen kann man ihn kaum nennen. "Ich mag Urlaub nicht, ich nehme auch kaum welchen", erzählt er. Schall arbeitet als Ingenieur für Pumpentechnik auf Bohrinseln – Nordsee, Naher Osten, überall wo gepumpt wird. Er hat immer so viel Resturlaub übrig, dass er weg muss. Und dann fliegt Schall nach Los Angeles, zuletzt diesen Februar für drei Wochen. Schall wohnt dort seit fünf Jahren stets bei einem Hobby-Fotografen, der ihn wegen der Fotos angeschrieben hatte: "Er hat ein großes Haus in Chinatown, da habe ich ein eigenes Zimmer, ein eigenes Bad – sehr amerikanisch.“
Von dort zieht Schall los. Erst zum Frühstücken zu "Philippe the Original", dann weiter in die Stadt. Immer allein, meist zu Fuß oder im Bus, mit seiner Digitalkamera und dem grünen Notizbuch, in das er die Adressen und Lageskizzen seiner Motive schreibt. Schall fotografiert Gebäude. Man sieht selten Menschen auf seinen Bildern, wenige Autos, kaum Armut. Man sieht den Bildern an, wie durchdacht sie sind: Beleuchtung, Komposition – nichts stört, nichts wirkt beliebig oder zufällig.
Die Faszination dieser Stadt hat Schall vor elf Jahre gepackt. Damals war er 29 Jahre alt, hatte gerade sein Ingenieurs-Studium beendet, war am Ende einer Reise auf der Route 66 in Los Angeles angekommen. Er wollte den Hollywood Boulevard sehen, den Strand – die klassischen Touristenattraktionen eben. Und dann fand er sich auf den Stadtautobahnen nicht zurecht, landete in Downtown, der Innenstadt von Los Angeles, dominiert von anonymen Wolkenkratzern. Und hier fotografiert Schall das 1926 erbaute Biscailuz Building, heute das mexikanische Kulturinstitut, die 1938 im Stil einer spanischen Mission erbaute Postzentrale, die erste Feuerwehrwache von 1884. El Pueblo nennt Schall diese Gegend: "Mitten in Downtown, die Keimzelle einer Millionenstadt." Diese Keimzelle begann Martin Schall zu fotografieren. "Und einmal angefangen, kann ich nicht mehr aufhören", sagt er heute.
Das stimmt. Zehn Mal in elf Jahren war er wieder hier. Wenn er nächstes Jahr kommt, werden ihn vielleicht ein paar Passanten erkennen. Denn Cara DiMassa von der "Los Angeles Times" hat ihn porträtiert, den Helfer bei der Recherche für so viele Artikel im Lokalteil. Auf der Titelseite der "Los Angeles Times" war Martin Schall jetzt also. Ken Bernstein von der Stadtverwatung lobte in dem Artikel Schalls "tiefe Wertschätzung und Einsicht für Los Angeles".
Natürlich freut Schall diese Anerkennung, natürlich freut ihn der Andrang auf seiner Website. Aber das treibt ihn nicht an. Wenn Schall über seine Bilder spricht, merkt man: Er sammelt diese Motive für sich, er vervollständigt sein Bild dieser Stadt. Schalls liebstes Motiv: Ein Panorama, in der Mitte des Wilshire Boulevard, der Los Angeles fast 26 Kilometer von Osten nach Westen durchzieht. Warum Schall dieses Bild mag: "Die endlose Stadt, die endlosen Straßen – ich werde in Los Angeles jedes Mal etwas Neues entdecken." Und diesen Zwischenstand einer wuchernden Stadt fotografieren, mitnehmen, einordnen. Denn vollständig ist diese Sammlung nie.