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Bizarre Netzgerüchte: Atlantis entdeckt, Magenta enttarnt (Spiegel Online, 22.2.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Bizarre Netzgerüchte

Atlantis entdeckt, Magenta enttarnt

Magenta ist keine Farbe! Google findet Atlantis! Apple integriert Microsoft! Ein paar Stunden lang glaubten viele Web-Nutzer diese Sensationen – gleich drei wunderbare Gerüchte eroberten das Netz binnen einer Woche. Keins stimmt, aber Tausende diskutieren die Magenta-Lüge.

Spiegel Online, 22.2.2009

Der 1. April kam in diesem Jahr etwa sechs Wochen zu früh. Da veröffentlichte Liz Elliott auf einer bislang nicht weiter bekannten Seite namens ” Biotele” einen Artikel mit vielen Illustrationen und dem eingängigen Titel: “Magenta ist keine Farbe!”


Etwas verkürzt dargestellt tritt der Beitrag mit ein paar Farbspektren den Beweis an, das Magenta gar nicht als eigener Abschnitt im Lichtspektrum auftaucht, anders als Rot, Gelb oder Blau keiner Wellenlänge zuzuordnen ist und somit auch gar keine Farbe sei.

Von dieser etwas obskuren Seite aus macht die auf die Überschrift “Magenta ist keine Farbe!” verkürzte Aussage schnell die Runde. Erst wird sie auf Evilmadscientist.com verlinkt, dann bei dem vielgelesenen Blog BoingBoing – dort immerhin mit dem einschränkenden Zusatz: “Magenta ist keine echte Farbe!”

Einen Tag später zwitscherten dann schon die ersten Web-Nutzer bei Twitter in die Welt hinaus: “Magenta ist eine Lüge.” Die Web-Nutzer nehmen das mit einem gewissem Humor, wie die Kommentare bei BoingBoing zeigen:

  • “Das soll eine Nachricht sein? Vielleicht haben sie schon mal von dem kleinen Etwas namens Braun gehört?”
  • “Aber, aber was bedeutet das für die Deutsche Telekom? Haben sie einen Teil unserer kollektiven Vorstellung als Warenzeichen geschützt?”
  • “Ich bin begeistert von den rechtlichen Konsequenzen für T-Mobile, denn meiner (uninformierten) Meinung nach kann man nicht Dinge als Warenzeichen schützen, die es nicht gibt!”

In der Vereinigten Staaten hatte die Telekom-Tochter T-Mobile im vergangenen April das Blog Engadget aufgefordert, die vermeintliche Telekom-Farbe Magenta aus der Seitengestaltung zu streichen. Nach einem Aufschrei in der Blogosphäre hielten die Telekom-Juristen es dann offensichtlich doch für schlauer, es nicht auf einen Prozess ankommen zu lassen.

Der schöne Magenta-Spott fand dann nach ein paar Tagen ein jähes Ende, als die IT-Seite Arstechnica die eigentlich längst bekannten Fakten der Farbwahrnehmung noch einmal verständlich aufschrieb. Kurz gesagt: Nicht jede vom menschlichen Gehirn wahrgenommene Farbe entspricht einem einzigen Bereich im Farbespektrum. Oder einfacher gesagt: “Magenta ist nicht eine einzelne Wellenlänge elektromagnetischer Strahlung im sichtbaren Spektrum, aber unser Gehirn nimmt es dennoch so wahr.”

Google hat Atlantis entdeckt!

Schade eigentlich. Bevor die Enttäuschung über die leider nicht vorhandene Magenta-Verschwörung zu groß wurde, beglückte die britische Boulevardzeitung “The Sun” die Welt mit einem ganz eigenen, sehr Web-kompatiblen Gerücht. Die Zeitung zeigte ein großes blaues Rechteck mit vielen Kratzern drin und schrieb darüber: “Ist das Atlantis?”

Dem Aussehen nach nicht, aber die “Sun”-Bildunterschrift des blauen Kuddelmuddels behauptet: “Karte von Atlantis, auf dem Meeresboden entdeckt”. Der Artikel zu diesem merkwürdigen Bild erzählt diese Geschichte: Ein Brite entdeckte beim Surfen auf Googles Weltatlas “Maps” in der Nähe der Kanaren ein merkwürdiges Relief im Meer (siehe Google-Karte unten).

Größere Kartenansicht

Die von diesem Muster durchzogene, rechteckige Gegend ist in etwa so groß wie Wales und liegt ungefähr dort, wo Plato laut “Sun” Atlantis vermutete. Außerdem bestätigte ein “Atlantis-Experte” der “Sun” dann noch, dass dieses Material “faszinierend” sei.

Fertig war die Atlantis-Geschichte, die so lange das Web faszinierte, bis sogar Google sich gezwungen sah, dem US-IT-Fachdienst “ZDnet” zu erklären, man habe nicht Atlantis entdeckt. Googles Erklärung für das Relief auf dem Meeresboden: Es handelt sich um Artefakte in der Darstellung der aufbereiteten Daten. Die einzelnen Striche seinen wohl auf die Routen einzelner, mit Sonar messender Schiffe zurückzuführen.

Da war es wieder still um Atlantis im Web und britischen Boulevardzeitungen. Nur der IT-Fachdienst Cnet argwöhnte noch einmal scherzhaft Googles Erklärung hinterher: ” Vertuschung!”

Die Apple-Microsoft-Allianz

Aber Cnet war es ja auch, wo das wohl aberwitzigste Web-Gerücht seit langem mit einem großen Artikel gewürdigt wurde: Weil auf der Startseite von Microsofts Suchmaschine Live Search in den USA für einzige Zeit ein Schneeleopard zu sehen war und Apples nächste Version des Betriebssystems OS X den Arbeitstitel Schneeleopard trägt, zählten manchen Web-Nutzer Schneekatze und Schneekatze zu einer Apple-Microsoft-Allianz zusammen.

Bei Cnet stand dann: “Was wäre, wenn Microsoft ein Geschäft abgeschlossen hätte, die Live-Suche als Standard in die nächste Version des Apple-Betriebssystems zu integrieren?”

Was dann wäre, könnte man mit einem Wort beschreiben: Produktenttäuschung. Oder ausführlicher, wie es Apple-Kenner Leander Kahney formuliert hat: “Apple braucht das Geld nicht und hat fast nie Produkte mit Diensten verknüpft, die wenig taugen.”

Inzwischen ist der Schneeleopard auch wieder von der Live-Search-Startseite verschwunden. Schade eigentlich. Vielleicht zeigt Microsoft auf der Live-Search-Startseite demnächst mal einen Pinguin. Einen fliegenden?


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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