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Blogger-Selbstregulierung: Zügel für die Zügellosen (Spiegel Online, 10.4.2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Blogger-Selbstregulierung

Zügel für die Zügellosen

Web-2.0-Guru Tim O’Reilly fordert einen Verhaltenskodex für Blogs: keine anonymen Foren mehr, nur noch geprüfte Kommentare und eine Selbstkennzeichnung. Kritiker fürchten Zensur und ein weichgespültes Internet.

Spiegel Online, 10.4.2007

Es begann mit einer Morddrohung: "Ich hoffe, jemand schneidet dir den Hals auf", schrieb vor sechs Wochen ein anonymer Kommentator in das Weblog der US-Programmiererin Kathy Sierra. Als Konsequenz hat der Verlagsgründer und Web-Guru Tim O’Reilly jetzt einen Verhaltenskodex für Blogger vorgeschlagen. Er fordert unter anderem: Blogger sollen "nicht-akzeptable" Beiträge zensieren, das Urheberrecht respektieren, anonyme Kommentare prinzipiell verbieten.

Prominente Blogger kritisieren diese Vorschläge: Robert Scoble erklärt, der "soziale Druck" hier mitzumachen "beunruhige" ihn, IT-Blogger Michael Arrington schreibt, er werde "einen Mob nicht entscheiden lassen, welche Inhalte nicht-akzeptabel sind".

Diese Debatte über Professionalisierung und Selbstregulierung von Blogs schwappt jetzt nach Deutschland. Sascha Lobo, Mitgründer des deutschen Blog-Werbevermarkters adical.de kommentierte O’Reillys Vorschläge skeptisch. Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE sagte er: "Die Missbrauchsgefahr ist in meinen Augen hoch und die Selbstzensur eine unterschätzte Gefahr. Vor die Wahl gestellt, würde ich mich lieber in Blogs wüst beschimpfen lassen, als dass ein Kodex ein eventuell wichtiges Posting verhindert."

O’Reilly will die Meinungfreiheit beschränken

Diese Fragen werden ein zentrales Thema auf der morgen in Berlin startenden Konferenz "re:publica – Leben im Netz" sein. Tagungs-Organisator und Blogger Markus Beckedahl sagt zu SPIEGEL ONLINE: "O’Reillys Forderungen, dass Blogger Markenrechte und Urheberrechte nicht verletzten dürften, halte ich für sehr kritikwürdig. Ausufernde Urheber- und Markenrechte können das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzen und Zensur fördern."

Am heftigsten attackieren Kritiker O’Reillys Forderung, nicht nur die eigenen Texte, sondern auch die Kommentare der Leser an einem Kodex zu messen und sie bei Verstößen zu zensieren. Nicht zu akzeptieren sind laut O’Reilly: Drohungen, Diffamierungen, Urheberrechtsverletzungen und Schleichwerbung. Aber: Was ist ein erlaubter, gehässiger Kommentar, was eine unzulässige Diffamierung?

Blogger sollen entscheiden, wer kommentieren darf

O’Reillys Vorschlag würde in der Praxis so aussehen: Jeder Blogger entscheidet allein und vorab für alle potentiellen Leser, welche Kommentare zulässig sind. Dieser Ansatz widerspricht der Idee des Webs im Allgemeinen und der Blogosphäre im Besonderen als Ort einer kollektiven Intelligenz, einer Ordnung, die mehr ist als die Summe ihrer Teile.

Sehr umstritten ist O’Reillys zweiter Vorschlag in Bezug auf Blog-Kommentare: "Wir setzen voraus, dass Kommentierende eine echte E-Mail-Adresse angeben, bevor sie schreiben. Sie dürfen allerdings online unter einem Alias schreiben." Im Diskussionsforum zu O’Reillys Vorschlägen ist dieser Absatz besonders umstritten. Immer wieder tauchen anonyme Kommentare auf wie: "Wir ziehen es vor, dass Informanten sofort erschossen werden." Die Wut dieser Kommentar-Vandalen ist groß, ihre Sorge verständlich: Müssen kritische Kommentare – zum Beispiel zu Arbeitgebern – wirklich zum Urheber zurückzuverfolgen sein? Weblog-Aktivist Sascha Lobo: "Das geht in meinen Augen zu weit. Blogs und die Kommentare dazu sollten anonym bleiben können."

Selbstkennzeichnung für Blogs: kodex-konform oder nicht?

Erstaunlich an O’Reillys Vorschlägen ist, dass er oft damit argumentiert, wie sich etablierte Medien in vergleichbaren Situationen verhalten würden. Er führt sie ausdrücklich als Vorbild für Blogger an, empfiehlt ein journalistisches Vorgehen wie die Nachrecherche. Sein Vorschlag einer Selbstkennzeichnung von Blogs als kodex-konform oder "alles ist möglich" erinnert an Selbstkontroll-Organe etwa der Filmwirtschaft. O’Reilly benutzt solche Vergleiche selbst. Er schreibt: "Moderatoren in Schock-Radiosendungen feuern ihre Anrufer ausfällig an. In einem Sprachprogramm für die breite Masse würde man nicht zögern, solche Anrufer auszublenden." O’Reilly will Lesern die Chance geben, mit Hilfe einheitlicher Kennzeichen, "Seiten mit vulgärer Sprache und beleidigenden Kommentaren zu meiden".

Schärfe und Subjektivität machen Weblogs einzigartig

Aber dieser ersehnte Warnhinweis könnte – wenn er denn wirklich kommt – zum Qualitätssiegel werden. Schließlich machen Subjektivität und ein scharfer Ton viele Weblogs unverwechselbar. Warum sollten Blogger sich also über die bestehenden Gesetze hinausgehende, neue Regeln auferlegen, die sich an denen älterer Medien orientieren? Blogger Markus Beckedahl: "Blogs sind im Allgemeinen subjektiver als die alte Presse. Die Regel im Pressekodex, dass bei Konflikten die Positionen beider Seiten darzustellen sind, werden dem Medium nicht wirklich gerecht." Den Unterschied betont auch Peter Turi, der sich als Medienjournallist und Blogger in beiden Welten bewegt: "Warum sollen wir dem Zügellosen Zügel anlegen, dem Ungeregelten Regeln verpassen, dem frei Atmenden ein Korsett anlegen?"

Vielleicht, weil einige Leser Zügel wollen. Dass das Thema vielen wichtig ist, zeigt die Heftigkeit der Debatte. Und ihr Ton demonstriert manchmal ihre Notwendigkeit. Ein anonymer Nutzer kommentiert O’Reillys Kommentare so: "Ich bin ein anonymer Nutzer und wollte sagen, dass Sie es eines Tages bereuen werden, den Satz geschrieben zu haben ‘Wir erlauben anonyme Kommentare nicht.’ Das ist keine Drohung."

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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