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Brüder im Wettbewerb (Süddeutsche Zeitung, 2.5.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
5 minuten gelesen

Brüder im Wettbewerb

Eigentum verpflichtet: Warum der Kapitalismus die vielleicht beste Wirtschaftsform ist, aber nur in der Ersten Welt funktioniert

Süddeutsche Zeitung, 2.5.2001

Was war noch mal der Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus? Vor mehr als zehn Jahren lösten sich die real existierenden Alternativen zum Kapitalismus in Luft auf. Toll, freut sich der peruanische Wirtschaftswissenschaftler Hernando de Soto: Endlich können wir „leidenschaftslos und sorgfältig“ diese überlegene Wirtschaftsordnung genauer betrachten. Doch warum predigt de Soto in seinem Buch „The Mystery of Capital“ die Unschlagbarkeit des Kapitalismus, wenn allein in seinem Wohnort Lima fünf Millionen Menschen in Slums leben?

Weil Armut nicht eine Folge des Kapitalismus sei – sondern die einer verfehlten Politik der betroffenen Staaten. Bei einer wirklich kapitalistischen Wirtschaftsordnung, konstatiert de Soto, müssten nicht 20 Prozent der Weltbevölkerung mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen. Das Problem sei, dass in Staaten der Dritten Welt wegen mangelhafter Eigentumsgesetze die meisten Menschen nie die Fesseln der Schattenwirtschaft abwerfen könnten, die etwa in Russland 50 Prozent des Bruttosozialproduktes schluckt. Die Gesetze eines Staates seien für den Wohlstand eines Landes wichtiger als Entwicklungshilfe, vor allem weitaus wichtiger als die Landeskultur. De Soto widerspricht damit kategorisch der von Samuel Huntington und Lawrence Harrison jüngst unter dem Titel „Culture matters“ vertretenen These, die Landeskultur würde wesentlich die wirtschaftliche und politische Entwicklung bestimmen. Beide Bücher haben in den Vereinigten Staaten keine Debatte über den Sinn des Kapitalismus, aber eine weit spannendere über die Bedingungen für seinen Erfolg ausgelöst.

Was ist das eigentlich, das Kapital? Ein oder zwei Gedanken sollte man sich mit de Soto schon über den recht komplexen Prozess der Umwandlung physischer Vermögenswerte in Kapital machen. Adam Smith mahnte in „Der Wohlstand der Nationen“ an, dass Vermögenswerte nur dann in aktives Kapital umzuwandeln sind, wenn sie fixiert werden. Das Kapital ist dabei nicht nach physischen Eigenschaften zu definieren. Marx beschrieb es als unabhängige Substanz, welche die Form von Geld oder Waren ebenso schnell annimmt wie abwirft. De Soto fasst beide Ideen zusammen: Formales Eigentum ist nicht die Reproduktion etwa der physischen Eigenschaften eines Hauses, sondern die Repräsentation eines Konsenses über bestimmte wirtschaftliche Qualitäten des Gebäudes. Damit aus Vermögen Kapital wird, damit also zum Beispiel ein Handwerker einen Kredit auf sein Haus aufnehmen kann, um sich selbständig zu machen, sind einheitliche Kriterien nötig, nach denen der wirtschaftlich nötige Konsens über die Wertzuschreibung erzielt wird. Mit Vermögenswerten und Kapital ist es wie mit einem Gebirgssee: Seine physische Existenz erlaubt nicht viel mehr als Baden und Fischen. In einem Haus kann man zunächst ja auch nicht viel mehr tun als wohnen. Will man nun mit einem Gebirgssee Energie gewinnen, ist ein Wasserkraftwerk nötig. So wie aus einem Haus nur Kapital zu gewinnen ist, wenn einheitliche Eigentumsrechte und ein formaler Prozess zur Umformung bestehen.

Solche Systeme funktionieren in der gesamten ersten Welt. Zur Zweiten und Dritten Welt hingegen gehören Staaten, die keine funktionierenden Eigentums- und Umformungssysteme haben. In Brasilien etwa wuchs die Bauindustrie 1995 nur um 0,1 Prozent, während der Verkauf von Zement um 20 Prozent anstieg. Der Grund: 60 bis 70 Prozent aller Immobilien sind Schwarzbauten. Hinzu kommen bürokratische Hürden. Wer beispielsweise in Peru ein Haus errichten will, muss 207 Verwaltungsschritte in 52 Regierungsinstitutionen überstehen. Menschen bauen folglich schwarz, handeln schwarz – leben in der Schattenwirtschaft, die einer Studie von de Sotos angesehenem Forschungsinstitut „Institute of Liberty and Democracy“ zufolge in der Dritten Welt Vermögenswerte von 9,3 Trillionen Dollar bindet.

Drei Thesen machen de Sotos Modell so reizvoll, dass Magazine wie Economist, Business Week und Forbes sich immer wieder darauf berufen. Zum einen sei der Kapitalismus a priori die beste Wirtschaftsform. De Soto widerspricht Marx in einem entscheidenden Punkt: Das Kapital konzentriert sich nicht einem Naturgesetz folgend bei einer Minderheit. Im Gegenteil: Der Kapitalismus würde die Menschen aus ihrer ökonomischen und politischen Unfreiheit befreien, fesselte ihn nicht ein unzulänglicher Staat. Zum zweiten sei die Erste Welt unschuldig an der Misere der Zweiten und Dritten. Statt koloniale Sünden mit Entwicklungshilfe abzuzahlen, sollte man den Staaten zu Gesetzesreformen verhelfen. Drittens verneint die Theorie jeden Einfluss kultureller Faktoren, was deren heikle Bewertung unnötig macht.

Gegen diese Thesen gibt es einige Einwände. So leitet de Soto ohne jeden Beweis aus seiner Annahme, der Kapitalismus sei die überlegene Wirtschaftsform, ab, dass dieser tatsächlich in allen Wirtschaftsbeziehungen der Ersten Welt uneingeschränkt herrscht. Was nicht stimmt. Bruce D. Scott, Ökonomieprofessor an der Harvard Business School Boston, hat in einer Replik auf de Soto dargelegt, dass die Grenze, die in Staaten der Dritten Welt durch Eigentumsgesetze zwischen der reichen Minderheit und der armen Mehrheit gezogen ist, in ähnlicher Form auch zwischen Erster und Dritter Welt besteht. Alle Staaten der Ersten Welt verhindern erfolgreich einen einheitlichen Weltmarkt für niedrig qualifizierte Arbeitskräfte und Agrarprodukte. So wird Wettbewerb und damit eine Angleichung der Lebensstandards verhindert – und die unfähigen Regierungen der Dritten Welt werden stabilisiert.

Die dritte Schlussfolgerung de Sotos, Kultur sei irrelevant, ist selbst in seinem eigenen Gedankengebäude wackelig. Auch wenn man Eigentumsgesetze als einzige Ursache für wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg gelten lässt, erklärt das nicht, warum die Gesetze so unterschiedlich sind. Die koloniale Vergangenheit kann nicht die Ursache sein. Gewiss mussten viele Staaten der Dritten Welt vor gerade mal einem halben Jahrhundert eine Verwaltung aufbauen. Erfolge, für die Europa und die Vereinigten Staaten Jahrhunderte brauchten, sind in 50 Jahren schwer zu realisieren. Nur: Die ehemalige britische Kolonie Ghana und die ehemalige japanische Kolonie Südkorea hatten in den frühen sechziger Jahren ein etwa gleich niedriges Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt. 30 Jahre später war Südkorea ein Industriegigant mit demokratischen Institutionen und einem Pro-Kopf- Bruttosozialprodukt in der Größenordnung Griechenlands, während das wenig demokratische Ghana nur ein Fünftel dieses Wertes erzielte. Huntington zieht daraus das Fazit: „Culture matters“, das den von ihm mitherausgegebenen Essayband überschreibt.

Darin macht der argentinische Rechtsprofessor Mariano Grondona in der Denktradition Tocquevilles und Montesquieus 21 kulturelle Faktoren aus, die den wirtschaftlichen Erfolg eines Staates beeinflussen. So stellt er etwa den kapitalismusfeindlichen Katholizismus in einen Gegensatz zum wirtschaftstüchtigen Protestantismus, was nicht nur in der Tradition Max Webers steht, sondern auch in der Anwendung auf das katholische Lateinamerika gar nicht so neu ist. Octavio Paz hat bereits 1979 den Unterschied zwischen den beiden Amerikas so beschrieben: „Das eine, englischsprachige, ist Tochter der Tradition, welche die Moderne begründete: die Reformation, mit ihren sozialen und politischen Konsequenzen der Demokratie und des Kapitalismus. Das andere, spanisch- und portugiesischsprachige, ist Tochter der universalen katholischen Monarchie und Gegenreformation.“

An diesen Thesen stört, ähnlich wie bei de Soto, die mangelnde Präzision: Der Kulturbegriff wird nicht definiert. Ist Kultur eine unabhängige Variable? Wie wird ihr Träger definiert? Hier bemüht sich der Entwicklungstheoretiker Stace Lindsay um Präzisierung, indem er den für die wirtschaftliche Entwicklung relevanten Kulturbegriff als die Summe individueller Überzeugungen von Politikern und Unternehmern in einem Staat definiert. Dabei entsteht ein neues Problem: In jedem Staat existieren offenbar mehrere Kulturen. Über die Dominanz einer bestimmten Überzeugung muss also eine andere Variable entscheiden.

Eine Lösung dieses Problems als Synthese von Huntington und de Soto bietet der US-Politologe Francis Fukuyama: „Formale Gesetze spielen eine bedeutende Rolle bei der Schaffung von informellen Normen, während informelle Normen die Schaffung bestimmter politischer Institutionen mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Religion bleibt auch in säkularisierten Gesellschaften eine wichtige Quelle kultureller Regeln, während diese Regeln zugleich spontaner Umwandlung unterliegen.“ Einfacher gesagt, besteht also eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen informellen, kulturellen Normen und der Gesetzgebung eines Landes.

Der Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus war übrigens dieser: Der Sozialismus propagiert das Wertesystem von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; der Kommunismus will dieses durch die Beseitigung des Privateigentums verwirklichen. Warum der Kapitalismus nur in der Ersten Welt funktioniert, haben de Soto und Huntington nicht endgültig beantwortet. Nur eines ist klar: Freiheit und Chancengleichheit sind am ehesten durch Privateigentum und eine Brüderlichkeit im Wettbewerb zu erreichen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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