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Britisches Kunstprojekt: E-Mails per Schnecke verschicken - mit 0,05 km/h (Spiegel Online, 20.5.08)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Britisches Kunstprojekt

E-Mails per Schnecke verschicken – mit 0,05 km/h

Das ist die echte Schneckenpost: Britische Künstler lassen die Kriecher Austin, Cecil und Muriel E-Mails auf einem Minichip durchs Terrarium schleppen, von einem Sendemast zum nächsten. Die Zustelldauer beim Schnecken-Webmailer: Mindestens zwei Tage – wahrscheinlich aber ein paar Jahrhunderte.

Spiegel Online, 20.5.2008

Austin ist schnell – für eine Schnecke. Er verschickt E-Mails fixer
als jeder seiner Mitbewohner in einer Schnecken-WG am
Computerkunst-Institut der britischen Bournemouth-Universität. Nur
knapp zwei Tage brauchte Austin, um eine über den Schnecken-Webmail-Dienst
verschickte Nachricht zuzustellen. Zehn hat er schon abgearbeitet in
den vorigen Wochen. Mitbewohner Cecil bringt es auf nur vier
Nachrichten (durchschnittliche Zustellzeit: 3,26 Tage), Kollegin Muriel
hat noch keine einzige E-Mail zugestellt.

Die drei Schnecken sind Protagonisten einer Installation der
Künstler Vicky Isley und Paul Smith. "Real Snail Mail" heißt das
Projekt und ist so charmant und lehrreich wie unnütz: Die Künstler
haben ihren drei Schnecken Austin, Cecil und Muriel
Miniaturschaltkreise und einen Funkchip (RFID) an den Panzer
geschnallt. In der Schnecken-WG stehen zwei Lesegeräte, die den
Funkchip aktivieren, auslesen und beschreiben können.

Über die Web-Seite des
Schneckenpost-Projekts kann jedermann eine E-Mail mit beliebigem
Empfänger, Absender, Text und Betreff senden. Die Nachricht kommt in
die Warteschlange für den Schneckentransport: Kriecht eine Schnecke
näher als drei Zentimeter an einem der Lesegeräte vorbei, schreibt das
Gerät die gerade anstehende E-Mail auf den Chip am Schneckenhaus. Kommt
die Schnecke dann am anderen Lesegerät vorbei, liest dieses die
Nachricht aus und versendet sie ganz herkömmlich übers Internet an die
angegebene Adresse.

Schnecke Muriel verweigert den Mailtransport

Die Folge: Wenn eine E-Mail einmal unterwegs ist, kommt sie mit
einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 0,05 Stundenkilometern voran,
hat die BBC
ausgerechnet. Wenn die Nachricht denn ankommt – Mailtransport-Schnecke
Muriel zumindest hat noch keine E-Mail abgeliefert, sie kroch einfach
noch nicht in die Nähe eines Lesegeräts.

Einen Prototyp dieser aberwitzigen Konstruktion haben die Künstler
diese Woche an der Bournemouth-Universität vorgestellt. Ein Probelauf
für die Präsentation der Schneckenpostinstallation auf der renommierten
US-Fachmesse für Animation und Computergrafik Siggraph im August.

Den ersten Besuchern der Seite gefällt die Ironie des Projekts offenbar – einige Kommentare aus dem
Blog der Künstler:

 

  • "Großartige Idee, so lange keine Schnecken zu Schaden kommen. Aber sie sehen sehr glücklich aus."
  • "Wie oft habe ich von ‘Schneckenpost’ gesprochen, ohne die offensichtliche Anwendung zu erkennen!"
  • "Süß! Ich habe mit meinem Mitbewohner gestern diskutiert, welche
    Internet-Anbindung in unserem Viertel wohl die schnellste wäre. Und am
    nächsten Tag erwische ich mich dabei, ihm eine Nachricht mit dem wohl
    langsamsten Web-Dienst überhaupt zu schicken. Ob er sie bekommt?"

Natürlich geht es Vicky Isley und Paul Smith nicht darum, dass die
Nachrichten in absehbarer Zeit zugestellt werden. Smith beschreibt die
Schneckenpostanlage im Gespräch mit der BBC als Gegenentwurf zur
allgegenwärtigen "Besessenheit von Unmittelbarkeit". Technik verspreche
immer "Geschwindigkeit, Beschleunigung, mehr von allem in weniger Zeit".

Künstler: "Wir rechnen in Jahrhunderten"

Die Schneckenpost verspricht das Gegenteil. Schöpferin Vicky Isley
kündigt im Schneckenblog eine Berechnung der erwarteten Zustellzeit an.
Beim aktuellen Nachrichtenaufkommen könnte das "in die Jahrhunderte
gehen". Isleys Kommentar: "Die Ingenieure, mit denen wir arbeiten,
haben viele Methoden erdacht, um die Effizienz des Systems zu erhöhen.
Wir haben sie davon abgebracht, auch nur eine einzige davon umzusetzen."

Weil die Macher angesichts des E-Mail-Aufkommens schon in
Jahrhunderten denken, stellen Besucher die Frage: Wie lange wird die
Schneckenpostinstallation bestehen? Isleys Antwort: "Wir werden den
Dienst anbieten, so lange wir können."

Denn, so die Künstlerin: "Wir wissen, dass das ein sehr umkämpfter
Markt ist und wir eine kleine, noch nicht erschlossene Nische besetzt
haben. Aber ich denke, dass die Mitbewerber jetzt gerade
Konkurrenzdienste entwickeln."

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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