Browser-Beschleuniger Silk: Amazon wird zum Intranet-Provider (29.9.2011)
Browser-Beschleuniger Silk
Amazon wird zum Intranet-Provider
Amazon formatiert das Netz um: Rufen Besitzer des neuen Amazon-Tablets Fire eine Website auf, rechnen die Server des Konzerns das Angebot klein und schnell. So soll das Browsen schneller werden – nebenbei bringen die Menschenmassen der Software bei, was im Web wirklich interessant ist.
Spiegel Online, 28.9.2011 mit Matthias Kremp
{jumi [*3]}
Die Amazon-Entwickler wählen die ganz großen Worte, um ihren neuen Ansatz für die Internetnutzung zu beschreiben: “Wir verändern fundamental die Art, wie Menschen das Web erleben”, heißt es auf der Website mit den Stellenausschreibungen für den neuen Dienst. In der Tat: Amazon Silk ist ein radikal neuer Ansatz, Menschen das gesamte Web zu präsentieren. Wenn ein Nutzer mit Amazons neuem Browser eine beliebige Website aufruft, wird sie standardmäßig von Amazons Servern analysiert und aufbereitet, bevor die Datenpakete an den Nutzer gesendet werden. Einfach gesagt: Amazon baut für seine Kunden ein Intranet.
Etwas Ähnliches hat die norwegische Firma Opera schon mit der Version 10 ihre Webbrowsers Opera eingeführt, die Funktion heißt Opera Turbo. Der Vergleich der Turbo-Technik mit Silk ist naheliegend: Beide Web-Techniken sollen den Internetzugriff beschleunigen, indem sie Aufgaben, die sonst der Prozessor des Endgeräts abarbeitet, auf entfernte Server auslagern.
Die Ansätze, mit denen Amazon und Opera den Browser beschleunigen, sind aber vollkommen unterschiedlich. Ist Opera Turbo aktiviert, werden die angesurften Web-Seiten von Operas Servern komprimiert, bevor sie an den Browser geschickt werden. Die Datenmenge sinkt, durch die Komprimierung werden allerdings vor allem Bilder geschrumpft, was durchaus sichtbare Artefakte hinterlassen kann (siehe Bilderstrecke).
Der Browser delegiert
Amazons Silk-Browser geht das Problem völlig anders an. Statt Seiten einfach zu komprimieren, lässt Amazon die Routineaufgaben des Webbrowsers von seinen Servern abarbeiten. Tippt man also eine Web-Adresse in den Silk-Browser, sendet der eine Anfrage an Amazons Rechenzentrum. Dort rufen Hochleitungsrechner die Seite auf, übernehmen die gesamte Kommunikation mit den zuliefernden Webservern arbeiten in die Seite eingebettete Skripte ab und senden schließlich die fertig aufgebaute (gerenderte) Seite an das Tablet. Dessen simple Aufgabe besteht dann darin, die Seite anzuzeigen.
Amazon wird so zu einer neuen Art von Internet-Provider. Das eröffnet Amazon faszinierende Möglichkeiten, aus enormen Datenmengen neues Wissen zu ziehen. Ein Beispiel dafür gibt der Amazon-Entwicker Jon Jenkins in seiner Vorstellung des Silk-Browser: Das System könne aus dem Verhalten vieler Nutzer lernen, wie die Mehrheit der Menschen bestimmte Angebote im Web nutzt. Das System beobachtet: Ein großer Teil der Nutzer ruft erst die Startseite der “New York Times” auf und wechselt dann ins Wirtschaftsressort. Daraus lernt Silk. In Zukunft lädt das System standardmäßig im Hintergrund das aktuelle Angebot des Wirtschaftsressorts nach, wenn jemand die “Times”-Website aufruft.
Menschenmassen trainieren Software
Google nutzt diesen Ansatz, Software mittels großer Datenmengen anonymisierten Nutzerverhalten zu trainieren, für die Verbesserung vieler Angebote. Welche Treffer die besten für bestimmte Suchanfragen sind, lernt Googles Suchmaschine unter anderem auch daran, wie oft Menschen bestimmte Treffer aufrufen – und wie schnell sie von diesen Seiten wieder zur Suchmaschine zurückkehren, um weiter zu recherchieren.
Bislang hat Google eine der besten Datenbanken menschlicher Absichten: Wonach suchen Menschen, welche Treffer erscheinen ihnen sinnvoll, wie unterscheidet sich das regional, welche Vertipper treten bei Suchanfragen besonders häufig auf und was meinen Menschen eigentlich, wenn sie Barock Obama in die Suchmaske tippen?
Amazons Jiu-Jitsu gegen Google
Wenn Amazons Silk-Browser erfolgreich wird, hat das Unternehmen Zugriff auf einen enormen Datenpool. Der Apple-Entwickler Chris Espinosa (Mitarbeiter Nummer acht der Firma) nennt Amazons Silk-Projekt vor diesem Hintergrund “verblüffendes Jiu-Jitsu gegen Google”. Espinosa ist begeistert von den Möglichkeiten zur Datenanalyse, die Silk schaffen könnte – breiten Erfolg einmal vorausgesetzt: “Die Nutzer kratzen das Web kostenlos zusammen und liefern Amazon die wertvollste Sammlung von Nutzerverhalten bislang.” Und als Basis für das eigenen Tablet nutzt Amazon ausgerechnet Googles kostenloses Betriebssystem Android – in einer stark modifizierten Version. Das ist Jiu-Jitsu: Man nutzt die Bewegungen des Gegner mit minimalem Kraftaufwand zum eigenen Vorteil.
Ob Amazon die bei Silk anfallenden Daten eines Tages für mehr nutzen wird als die optimierte Auslieferung von Webangeboten, ist derzeit völlig offen. In den Datenschutzbestimmungen zu Silk erklärt Amazon, man speichere bestimmte Informationen über die Internetnutzung höchstens 30 Tage lang, um den Dienst technisch zu verbessern. Neben den Adressen von Web-Angeboten führt Amazon auch IP und MAC-Adresse auf – mehr nicht.
Für die Zukunft sind viele Ansätze für eine intelligente Auswertung denkbar: interessenbasierte Anzeigen, Vorschläge passender Literatur zum Leserverhalten im Web, eine Anpassung des Amazon-Onlinekaufhauses auf Basis aggregierten Kaufverhaltens der Nutzer auf anderen Shoppingseiten. All das wäre möglich, ohne das Surfverhalten der Nutzer mit ihnen persönlichen Informationen zusammenzuführen.
Der erste Schritt zum Intranet
Einige Beobachter sind besorgt angesichts der Informationsfülle, die bei Amazon nun bei getrennten Diensten anfallen. Auf Anfrage erklärt Opera-Manager Johan Borg – im Browsermarkt nun ein Konkurrent Amazons -, was aus seiner Sicht die wichtigsten Unterschiede zwischen Opera Turbo und Amazon Silk sind. An erste Stelle stellt er dabei, das Opera, anders als Amazon, über keine personengebundenen Daten seiner Nutzer verfügt. Der norwegische Browser können zwar die IP-Adresse und den Typ des genutzten Geräts ermitteln, würde außerdem die angesurften Internet-Adressen und die ID-Nummer des jeweiligen Browsers registrieren, mit einer Person ließen sich diese Daten aber nicht zusammenführen.
Es deutet nichts darauf hin, dass Amazon etwas derartiges plant. Wertvoll sind die gewonnen Informationen über die Internet-Nutzung auch in anonymisierter Form. Apple-Urgestein Espinosa urteilt: “Das ist der erste Vorstoß im Wettbewerb, das Internet durch ein privates Netzwerk zu ersetzen.”