Buntes vom Baum der Erkenntnis (Süddeutsche Zeitung, 7.3.2001)
Buntes vom Baum der Erkenntnis
Was uns Apples Ästhetik über mediatisierte Wirklichkeit und die Demokratisierung von Herrschaftswissen erzählt
Süddeutsche Zeitung, 7.3.2001
Jetzt kann man Apples iMac auch angeschaltet schön finden. Zum wohlgerundeten Äußeren in „graphite“ oder „flower power“ kommt eine weitere Augenfreude: Halbtransparente Menüleisten, animierte Logos, weggesaugte Fenster. Die Ästhetik des neuen Betriebssystem OS X – ab Ende März in Deutschland zu kaufen – reflektiert nebenher einige Jahrzehnte Interface-Geschichte.
Noch vor 40 Jahren bekamen nicht einmal Programmierer ihre Computer zu sehen. In den fünfziger und auch noch in den sechziger Jahren standen die millionenteuren Großrechner in hermetisch abgeriegelten Räumen, die nur von wenigen Auserwählten – meist in weißen Kitteln – betreten werden durften. Die Ästhetik der Großrechner erinnerte an die vorindustrielle Aura, die Walter Benjamin dem Kunstwerk im Zeitalter vor seiner technischen Reproduzierbarkeit zuschrieb. Damit meinte er die somnambule Beschränkung des bürgerlichen Betrachters, der nie über die Grenze der sinnlichen Erfahrung hinaus in Richtung Transzendenz aufbrach.
Diese Aura verschwindet, wenn das Objekt der sinnlichen Erfahrung unendlich oft herzustellen ist. Die frühen Computer jedoch waren einmalig. 1960 waren in den USA gerade mal 6000 in Betrieb. Die Rechenräume glichen Kultstätten, das darin produzierte Wissen blieb einer Elite vorbehalten. Dem Rest der Bevölkerung musste es als Magie erscheinen. Programmieren wurde nicht als Kommunikation erkannt, sondern als Zauberei bestaunt und gefürchtet. Somit stand die vorindustrielle Ästhetik der frühen Computer im Widerspruch zu ihrer Funktion. Denn die Rechner sollten ja die Wissensproduktion industrialisieren.
Ein wenig änderte sich das mit Rechnern, die in Echtzeit die Befehle der Programmierer verarbeiten konnten, wie jene der PDP-Reihe von Digital Equipment. Die Arbeit der Programmierer ähnelte nicht mehr dem Anrufen einer Gottheit mit der Hoffnung auf eine Antwort, sondern war eher ein gleichberechtigtes Gespräch: Der Programmierer wartete nicht Tage auf Ergebnisse, sondern erhielt in Sekunden eine Antwort auf jede Programmzeile. Und doch mussten die Nutzer die Fähigkeit zur Kommunikation mit diesen Geräten erst lange Zeit lernen, um dann für wenige Stunden Rechenzeit in Universitätshallen zu pilgern.
Dies änderte sich erst 1977, als Steve Wozniak und Steve Jobs den Apple II entwarfen. Nicht der Benutzer sollte zu diesem Gerät kommen, sondern umgekehrt. Der Apple II kostete 666,66 Dollar – die Rechenkraft der Großrechner der 60er Jahre war nun für einen großen Teil der Bevölkerung verfügbar. Das spiegelte sich auch in der Ästhetik wider. Der kleine, beige Kasten des Apple II passte bequem auf einen Schreibtisch.
Technik wurde nicht nur für jedermann benutzbar sondern auch spür- und sichtbar. Der Computer war nicht mehr eine Black Box in abgeschirmten Hallen, aus denen Ergebnisse kamen, die zwar jedermann respektierte, deren Herkunft aber viele in einer mythischen Dunkelheit verorteten. Die nicht hinterfragte Ehrfurcht gegenüber einem Gerät, das in derselben Ausführung auf unzähligen Schreibtischen steht, hält sich in sicheren Grenzen. Was Benjamin durch die Ästhetik der Massenmedien für das Kunstwerk gegeben sah, realisierte Apple für die neue Informationstechnologie: eine Demokratisierung des Zugangs.
Das Interface-Design des Apple-Betriebssystems „OS 1“ folgte der Theorie des österreichischen Soziologen Otto Neurath. Der hatte in den zwanziger Jahren kritisiert, dass der Zugang zu neuen Wissensreserven allein einer Elite vorenthalten blieb. Nichts anderes geschah bis in die frühen Achtziger in der Informationstechnologie, die nicht nur eine Wissenschaft für sich, sondern auch Voraussetzung für die Beschäftigung mit vielen anderen wurde.
Neurath forderte eine Ergänzung des abstrakten Schriftkonzeptes durch eine neue Kulturtechnik. Mit einem Grafiker-Team entwarf er eine Bildersprache für abstrakte Erkenntnisse. Apples Betriebssystem für den Macintosh löste die damalige Navigation durch den Informationspool des Computers mittels eingetippter Befehle durch eine grafische Oberfläche ab. Um eine Datei zu löschen, musste der Nutzer nicht mehr einen kryptischen Befehl wie „del Dateiname“ eintippen, sondern einfach mit der Maus die Datei in einen kleinen Mülleimer ziehen.
Das Revolutionäre an Apples grafischer Oberfläche des Betriebssystems war vor allem die Idee, dass medialer Wandel keine Naturgewalt sondern ein gestaltbarer Entwicklungsprozess ist. In einem entscheidenden Punkt verkehrte Apple diese Erkenntnis jedoch in das Gegenteil der Forderungen Neuraths und Benjamins. Mit allen Mitteln hielt man die Funktionsweisen des Betriebssystems geheim, so dass niemand es unkontrolliert oder gar unerlaubt weiterentwickeln konnte. Zwar wurde ein breiter Zugang zur Informationstechnik des Computers geschaffen, die Anpassung dieses Wegs durch seine Benutzer und damit eine tatsächliche Demokratisierung jedoch verhindert.
Denkansätze für eine neue Art der Organisation von und Navigation durch Information gab es schon längst. Der Ingenieur Vannevar Bush, der während des Zweiten Weltkriegs die amerikanische Forschung und Waffenentwicklung leitete, skizzierte 1945 in einem Essay für das Magazin Atlantic Monthly ein System der assoziativen Indexierung von Information für den sinnvollsten individuellen Gebrauch. Ein Betriebssystem nach diesem Prinzip der Anpassung des Index an seinen Benutzer in Verbindung mit dem grafischen Zugang des Macintosh hätte der Traum des Kommunikationswissenschaftlers Vilém Flusser werden können.
Er sah die Grenze zwischen Medienwirklichkeit und Wirklichkeit verschwinden, weil letztere sich ebenfalls als Konstruktion entpuppte. Flusser warnte, dass nicht ein Übernehmen der mediatisierten Wirklichkeit sondern allein das bewusste Annehmen und Ausüben der Rolle als Konstrukteur der Ausweg sei. Dieses Bewusstsein hat Apple nie gefördert. Man tat alles, um die Technik verschwinden zu lassen.
Zwar stand der Rechner noch sichtbar auf dem Schreibtisch, doch wirkte das betuliche, eckige Beige wie eine Tarnfarbe. Erst das Design des Massenprodukts iMac weist in eine neue Richtung der bewussten Sichtbarmachung der Technik. Der iMac ist bunt und seltsam rund. Der Benutzer kann nicht anders als seine Form zu betrachten und sich dadurch der Konstruiertheit bewusst zu werden. Dass die zweite Generation der iMacs dank einer durchsichtigen Hülle den Blick ins Innere auf Platinen und Chips ermöglicht, unterstreicht, dass hier Technik bewusst wahrgenommen werden soll.
Das neue Betriebssystem OS X vereint die bisherige Tugend Apples des einfachen Zugangs mit diesem neuen Selbstverständnis. Das Arbeiten mit dem neuen Interfacedesign „Aqua“ ist nicht nur einfach, sondern sogar schön anzuschauen. Wirklich revolutionär für Apple ist allerdings die Offenheit des Programmcodes des Systems. Jedermann, der an dem Programmkern „Darwin“ herumbasteln will, erhält diesen kostenlos bei Apple. Die Bedingungen sind sehr locker. Weder müssen Entwickler Apple über jede Änderung des Quellcodes benachrichtigen, noch ist eine jederzeit drohende Widerrufung der Lizenz möglich. Die Rolle als Konstrukteur wird dem Nutzer nicht nur bewusster, sondern auch einfacher gemacht.
Nur ist diese Arbeit am Programmcode und somit am Indexierungsmodus von Information seit den Anfängen am Großrechner nicht im selben Maß einfacher geworden wie die Navigation durch den Informationspool mit Hilfe einer grafischen Benutzeroberfläche. Apple könnte hier noch eine Menge tun, aber dies würde die eigene Position als Unternehmen untergraben. Denn wenn jeder Software schreiben kann – wer sollte sie dann kaufen?