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Chatter, die die Welt bedeuten (Die Zeit, 2.1.2003)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Chatter, die die Welt bedeuten

Online-Rollenspieler schweben zwischen Realität und Virtualität. Ihr zweites Leben im Internet fasziniert auch Wirtschaftswissenschaftler und Psychologen

 

Die Zeit, 2.1.2003

Interhagen ist ein seltsamer Ort: Tag und Nacht kann man nicht unterscheiden, denn immer sind hier Massen von Menschen unterwegs. Manche tragen Bärenkostüme, fast alle tanzen bisweilen unvermittelt vor Freude. Alle hier leben in Wohngemeinschaften, es gibt sogar eine Kommune, die Gartenzwerge en masse fertigt und sich frei nach Warhol „Factory“ nennt – was in diesem Fall für „Friendly Artisans Creating Treasures out of Recycled Yew“ steht. Factory und Interhagen liegen irgendwo in Kalifornien, auf den Servern des gerade erschienenen Online-Rollenspiels Sims Online.

Der Schwebezustand der Online-Spiele fasziniert zunehmend auch Forscher. Der Wirtschaftswissenschaftler Edward Castronova von der California State University in Fullerton berechnet seit einiger Zeit den „Virtual World Currency Index“. Castronovas Studie über das Wirtschaftssystem des Online-Rollenspiels Everquest ergab Anfang des Jahres, dass dessen Bruttoinlandsprodukt irgendwo zwischen dem von Bulgarien und dem von Russland liegt. Der Vergleich ist möglich, weil viele Spieler die virtuelle Währung bei Online-Auktionen kaufen – und mit echtem Geld bezahlen. Bei eBay etwa wurden schon 50000 Platinmünzen für 450 Euro verkauft und nach Geldeingang an einem vom Käufer gewählten Ort in der Spielwelt übergeben. 

Solche Zahlen verdeutlichen die enorme Faszination, die Online-Rollenspiele ausüben. Laut dem Everquest-Hersteller Verant verbringt ein durchschnittlicher Spieler 20 Stunden pro Woche in der Fantasiewelt. Bei einer nicht repräsentativen Umfrage Castronovas gab ein Drittel der Befragten sogar an, mehr Zeit für Everquest als für ihren Beruf aufzubringen. 

Der Grund für diese Faszination ist wenig erforscht. Den ersten Versuch, eine Typologie der Spieler zu erstellen, machte Richard Bartle. Der Brite entwickelte mit Roy Trubshaw 1978 an der Universität Essex das Programm Mud, den Urahn aller heutigen Online-Rollenspiele. Bartle hat die damals beobachteten Spielstile zu vier Typen zusammengefasst. So genannte „Killer“ sammeln Wissen über die Spielwelt nur, um ihre Mitspieler zu dominieren. Die „Aufstrebenden“ wollen in der Spielwelt möglichst bald Macht, Ansehen und ein sorgenfreies Leben genießen. „Entdecker“ erforschen die Spielwelt ausführlich, um sie so innig wie möglich zu erleben. Die „Geselligen“ dagegen interessieren sich vor allem für ihre Mitspieler – und zwar für die realen Personen, nicht für die von ihnen gespielten Charaktere.

Die älteren, in Fantasy-Szenarien angesiedelten Online-Rollenspiele Everquest und Ultima Online sind eher auf die Aufstrebenden und Killer in Bartles Typologie ausgerichtet. Der Spieler muss Monster töten, um mächtiger zu werden und noch größere Monster töten zu können. So etwas nennen Rollenspieler auch hack and slash. Allerdings sind Titel wie Everquest etwas komplexer. Um die wirklich spannenden sozialen Prozesse mitgestalten und erleben zu können – in Gilden beispielsweise –, muss man viel Zeit in den zuvor nötigen Aufstieg investieren. Je länger man spielt, desto freier kann man sich in der Welt bewegen.
Auch Sims Online motiviert die Aufstiegswilligen, schließlich kann man sich zum Millionär hocharbeiten oder durch gelungene Partys in die Top-100-Liste der beliebtesten Mitspieler kommen. Allerdings spricht der neue Titel insgesamt eher die Entdecker und Geselligen aus Bartles Typologie an. Wie – und ob überhaupt – die Spielfigur Karriere machen muss, ist nicht vorgegeben. Geld verdient man zum Beispiel, wenn andere Sims gern das eigene Anwesen besuchen. Die Kreativität der Spieler beim Schaffen solcher Anwesen fördern die Designer, indem die beliebtesten Orte nach zehn verschiedenen Kategorien definiert werden können: Romantik gehört ebenso dazu wie Humor oder Fortbildungschancen.

Eine vergleichbare Inszenierungslust scheint bisweilen auch in den älteren Online-Rollenspielen auf. Im koreanischen Spiel Lineage hinterlässt am Nachrichtenbrett eines Dorfes regelmäßig ein offensichtlich geselliger Mitspieler lange Rätsel. Wer sie löst, bekommt von ihm einen ordentlichen Geldbetrag. 

In allen Online-Rollenspielen fällt auf, dass die Spieler viel Geld in ihre Ausrüstung und Kleidung investieren. Am wertvollsten sind seltene Gegenstände – nicht nur wegen ihrer besonderen Fähigkeiten, sondern auch, weil die Seltenheit ein wenig äußere Individualität sichert. Die Designer von Sims Online vervollkommnen diesen Kult, indem sie den Spielern Hunderte verschiedener Gestaltungsmöglichkeiten für Häuser und Spielfiguren ermöglichen. Spieler wollen sich selbst eben nicht nur in Dialogen, sondern auch in Bildern inszenieren. 

Die Psychologin Sherry Turkle schrieb schon 1995 über diesen Reiz der Muds: „Die Pygmalion-Sage ist unsterblich, weil sie eine unserer stärksten Fantasien anspricht: dass wir nicht durch unsere Geschichte eingeengt sind, sondern uns völlig neu schaffen können.“ Diesen Wunsch erfüllen Online-Rollenspiele. Und wenn die so entstandene Ersatzbiografie nicht den gewünschten Verlauf nimmt oder man sich in der Online-Welt unbeliebt gemacht hat – dann fängt man eben ganz von vorne an.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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