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Compuserve Classic: Der älteste Online-Dienst ist offline (Spiegel Online, 6.7.2009)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Compuserve Classic

Der älteste Online-Dienst ist offline

Bei Compuserve gab es die ersten privaten E-Mail-Adressen, hier debattierte Apple-Gründer Wozniak mit Fans, hier ging der SPIEGEL online: Nach 30 Jahren knippst AOL den Online-Oldie Compuserve Classic aus.

Spiegel Online, 6.7.2009

Ein Jahr bevor Google gegründet wurde, nannte SPIEGEL ONLINE den Internet-Dienst Compuserve schon einen “Online-Oldie”. Das war 1997. Heute, 30 Jahre nachdem Compuserve in den USA den ersten E-Mail-Dienst für PC-Besitzer einführte, klemmt die Firma ihre ältesten Kunden ab. Damit endet endgültig eine Ära der Online-Geschichte – oder, wie SPIEGEL ONLINE 1997 schrieb: die “Chronologie eines Abstiegs”.

Wer zwischen 1979 und 1998 Compuserve-Kunde wurde, also bevor AOL das Unternehmen übernahm, erhielt als Nutzerkennung und E-Mail-Adresse eine kryptische Zahlenfolge wie zum Beispiel 72423,3343. Das System, welches diese Ziffern ausspuckte, wird nun abgeschaltet, AOL unterstützt die alten Compuserve-Zugangsprogamme nicht mehr.

Im Web findet man auf manchen Seiten traurige Nachrufe, der des New Yorker IT-Journalisten Robert S. Anthony zum Beispiel, der sich mit den Zeilen “Mach es gut, alter Freund” verabschiedet und seinem Compuserve-Classic-Zugang nachtrauert, den er nach 23 Jahren aufgeben muss: “Das Traurigste daran ist, dass Compuserve Classic nicht mit einem Knall geht, sondern mit einem Wimmern.”

In der Tat: Was an Compuserve einmal einzigartig war, wird heute wohl nur eine Minderheit der Webnutzer beantworten können. Dabei hat der US-Anbieter zahlungskräftigen Privatkunden einst als erster Dienste angeboten, die heute alltäglich sind: E-Mail für Privatpersonen (1979), Onlinechats in Echtzeit (1980), ein Datentransfer-Protokoll (1981) und den Zugang zu Foren, Medien, Archiven und Online-Shops, lange bevor das World Wide Web standardisiert wurde. In Deutschland konnte man bei Compuserve dpa-Nachrichten lesen, die Bahnauskunft online abfragen und in den Foren von Microsoft. Dr. Neuhaus und Chip Experten um Rat bitten. Das waren damals exklusive Inhalte.

1987 hatte Compuserve Classic 380.000 Nutzer, 1991 mehr als 500.000 und 1994 1,7 Millionen weltweit – damit war Compuserve der führende Online-Dienst weltweit.

“Als Wegweiser dienen Bildsymbole”

Die erste Seite von SPIEGEL ONLINE war bei Compuserve online – ein halbes Jahr, bevor der WWW-Auftritt startete. Am 14. März 1994 erklärte der SPIEGEL in der Hausmitteilung auf Seite drei, wie das Angebot funktioniert: “Mittels eines Modems, das den PC mit der Telefonleitung verbindet, können SPIEGEL-Leser die Redaktion dann direkt über die Datenautobahn ansteuern, elektronische Leserbriefe (E-Mail) schicken oder schon am Samstag die wichtigsten Artikel der erst am Montag erscheinenden Ausgabe lesen.” Und: “Als Wegweiser dienen Bildsymbole, die am Monitor mit der PC-Maus angeklickt werden.”

E-Mails empfing der SPIEGEL damals unter der Compuserve-Mail-Adresse 100064,3164.

An diesen nun abgeschalteten Zahlen-Kolonnen erkennt man, wie alt Compuserve damals schon war: Das Format der Nutzerkennung resultiert aus den Beschränkungen des Großrechner-Betriebssystems TOPS-10, das am Anfang die Compuserve-Dienste verwaltete.

Entstanden ist der Vorläufer des Online-Dienstes 1969 als Tochterfirma der US-Versicherung Golden United Life. Das Unternehmen arbeitete als IT-Dienstleister für die Mutter, betrieb die PDP-Großrechner, vermietete Rechenzeit an diesen Anlagen auch an andere Firmen.

Eine kleine, geschlossene Parallelwelt

1979 startete Compuserve in den Vereinigten Staaten den eigenen Online-Dienst für Privatkunden, mit E-Mail und Textseiten und vielen der Dienste, die es im Internet schon gab. Ein Steuerberatungs-Dienstleister namens H&R-2Block übernahm Compuserve, baute den Online-Dienst aus – 1985 gab es USA-weit 260 Einwahlknoten ins Compuserve-Netz.

In den achtziger und frühen neunziger Jahren war diese kleine, geschlossene Parallelwelt zum Internet ein einzigartiger Tummelplatz für Nerds. Die Nutzer-Kommentare bei Slashdot zum Ableben von Compuserve Classic erzählen mit viel Nostalgie von dieser Zeit und dem Ton, der damals in den Online-Foren von Compuserve herrschte: “Es ist verblüffend, wie viel netter die Menschen damals waren, wie viel mehr Substanz Debatten hatten.”

In den Compuserve-Foren debattierten IT-Legenden der ersten Stunde mit Nutzern. Apple-Mitgründer Steve Wozniak zum Beispiel, der im Oktober 1983 gut zwei Stunden im Forum der Apple-Nutzergruppe bei Compuserve Fragen beantwortete ( Transkript). Der Legende nach hat in den Compuserve-Foren Bill Gates hämische Kommentare kassiert, als er den Nachfolger von Dos 3.0 versprach. Computerjournalist John Dvorak soll ihm damals geantwortet haben: “Wenn ihr mal die Software fehlerfrei ausliefern könntet, die ihr verkauft, statt neue anzukündigen, dann wäre das ein Fortschritt.”

In den neunziger Jahren verlor Compuserve recht schnell erst sein Alleinstellungsmerkmal und dann Kunden: Als immer mehr Menschen online sei wollten, griff AOL mit seinem Mainstream-Online-Dienst die neuen Kunden ab. Die Idee einer geschlossenen Abo-Blase im Netz war dieselbe wie bei Compuserve, allerdings vermarktete AOL sein “Internet light” konsequent und erfolgreich als Massenprodukt. Compuserve versuchte das mit einem Familien-Dienst namens Wow! nachzuahmen, statt sich auf professionelle Anwender und Fachinformationen zu konzentrieren. Die Kunden verschwanden, die Verluste stiegen, und 1998 übernahm dann AOL den einstigen Online-Riesen.

Wenig später war die Zeit der geschlossenen Online-Dienste endgültig vorbei. Für simple Bedienung und ein paar Extradienste wollten die Nutzer keinen Aufschlag mehr zahlen, sie wollten einfach nur ins ganz normale Web. AOL modelt sich mit viel Mühe zum Werbevermarkter und Werbeplatz-Anbieter (TMZ, Engadget) ohne Abo-Hürden um.

Und Compuserve Classic ist nach 30 Jahren offline.