Computer zeugen erstmals Nachwuchs (Frankfurter Rundschau, 2.9.2000)
Computer zeugen erstmals Nachwuchs
US-Forschern präsentieren Roboter, die 600 Generationen Evolution durchlaufen und das Endprodukt selbst herstellen
Frankfurter Rundschau, 2.9.2000
Wenige Zentimeter pro Sekunde für einen Kriechroboter – ein großer Schritt für das Projekt Künstliches Leben: In den USA haben zwei Informatiker der Brandeis Universität in Waltham, Massachusetts, erstmals Roboter konstruiert, die sich unabhängig von Menschen selbst reproduzieren und weiterentwickeln können.
Als Kennzeichen für Leben gelten allgemein Fortpflanzung, Wachstum, Stoffwechsel, Vererbung, Evolution und Reaktion auf Umweltreize. Die beiden Wissenschaftler Hod Lipson und Jordan Pollack schreiben in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature zu ihrem Projekt: "Leben ist ein autonomer Designprozess, der komplexe chemische 'Fabriken' nutzt und so Herstellung und Testen physischer Entitäten ermöglicht, die die Möglichkeiten des Mediums ihrer Herstellung benutzen."
Sprich: Fortpflanzung und Evolution. Der Versuch der Informatiker, diesen biologischen Vorgang mit nicht-organischen Mitteln zu kopieren, begann im Computer. Ihm wurde die Aufgabe gestellt, einen Roboter zu entwerfen, der sich auf einer horizontalen Fläche fortbewegen kann. Der einzige menschliche Eingriff bestand hier in der Vorgabe der Naturgesetze von Schwerkraft und Reibung und dem Bereitstellen von 200 nicht funktionierenden Entwürfen eines Kriechroboters.
Der Computer spielte den Evolutionsprozess durch: Neben den Entwürfen veränderte er auch die Steuerungssoftware der Kriechroboter. Nach jedem Entwicklungsschritt ließ er seine Entwürfe in einer Simulation kriechen. Die erfolgreichsten wurden weiterentwickelt.
Nach 300 bis 600 Generationen schickte der Computer seine Entwürfe an eine "Rapid Prototyping" Maschine, die in kurzer Zeit aus thermoplastischem Material die Modelle herstellte. Das Einbauen der Motoren und Laden der Steuerungssoftware aus dem Rechner war der einzige weitere menschliche Eingriff.
Herausgekommen sind unterschiedlichste Entwürfe. Ein Roboter läuft seitwärts wie ein Krabbe, ein anderer verwendet eine Akkordeontechnik. "Das ist das erste Beispiel der fast vollständig automatisierten Evolution einer Maschine. Es ist zwar relativ primitiv, aber möglicherweise der erste Schritt zu etwas, das wesentlich bedeutender sein könnte", beurteilte Philip Husbands, Professor für Künstliche Intelligenz an der britischen Universität Sussex, die Ergebnisse in der New York Times.
Tatsächlich werden noch einige Schritte nötig sein, bis diese selbstreproduzierende Roboter zu der "Bedrohung" werden könnten, die Sun-Mitbegründer Bill Joy in ihnen sieht. Bei Lipsons und Pollacks Versuch übermitteln die hergestellten Roboter-Entwürfe keine Daten an den Rechner. Evolution findet ausschließlich in einer im Computer erzeugten Simulation der Realität statt – an die tatsächlichen Umweltbedingung können sich die Roboter nicht anpassen. Pollack vergleicht ihre Intelligenz mit denen von Bakterien: "Wir hoffen, sie in einigen Jahren auf das Niveau von Insekten zu bringen".