Lange Schutzfrist lässt Bücher sterben
Ein überaus restriktives Urheberrecht schadet der Verfügbarkeit von Büchern: US-Forscher kritisieren schädliche Folgen langer Schutzfristen, deutsche Bibliotheken beklagen, dass sie fast vergessene Werke kaum digitalisieren dürfen. So verschwinden Bücher, womöglich für immer.
Spiegel Online, 26.4.2012
Hilft oder schadet ein starkes Urheberrecht dabei, Literatur in Buchform zugänglich zu machen? Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten – es kommt wohl darauf an, welchen Zeitraum man betrachtet. Der Jurist Paul Heald von der University of Illinois hat in einer bislang nicht veröffentlichten Studie untersucht, wann die in Amazons US-Literaturangebot verfügbaren Werke erschienen sind. Healds vorläufiges Fazit: “Die lange Schutzfrist des Urheberrechts verhindert die Publikation wertvoller Werke.”
Heald ist bei der Untersuchung so vorgegangen: Sein Team hat einen Zufallsgenerator programmiert, der Bücher aus Amazons US-Katalog in der Kategorie Literatur aufrief. Dazu benutzten die Forscher die sogenannten Internationalen Standardbuchnummern (ISB-Nummern). Bei etwa zwei Prozent der zufällig generierten ISB-Nummern lieferte die Datenbank einen Treffer zu einem bei Amazon selbst (nicht von Drittanbietern) neu lieferbaren Werk. 2500 Titel kamen so zusammen. Im nächsten Schritt recherchierte Heald in der Datenbank der US-Kongressbibliothek das ursprüngliche Erscheinungsjahr jedes Titels.
Das Ergebnis ist erstaunlich: Gerade einmal 25 der 2500 zufällig ausgewählten, derzeit als neue Ausgaben verfügbaren Werke sind in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zuerst erschienen. 75 heute verfügbare Titel stammen hingegen aus den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Dass die im 19. Jahrhundert erschienenen Werke heute so zahlreich in Neuausgaben verfügbar sind, die im 20. Jahrhundert erstmals veröffentlichen hingegen vergleichsweise spärlich, lässt sich nicht mit der Publikationsmenge erklären. Heald führt aus, dass in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mehr als viermal so viele Neuerscheinungen auf dem US-Buchmarkt publiziert worden sind wie in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts.
Heald erklärt die frappierend geringe Verfügbarkeit von Werken jüngeren Datums mit den langen Schutzfristen im Urheberrecht. In den Vereinigten Staaten wird, wie in Deutschland auch, ein Werk 70 Jahre nach dem Tod des Autors gemeinfrei, bis dahin gilt das Urheberrecht. Wer eine Neuausgabe publizieren will, aber die Rechteinhaber nicht finden kann, muss das Vorhaben aufgeben oder das Risiko eingehen, als Raubkopierer belangt zu werden. So sterben Bücher.
Heald schränkt ein, dass er das alles erst mit absoluter Gewissheit sagen könne, wenn die Studie in einem wissenschaftlichen Fachblatt mit Peer-Review-Verfahren veröffentlicht worden ist, doch bei aller Vorsicht: “Für mich ist klar, auch aufgrund anderer Forschung, dass die langen Schutzfristen des Urheberrechts die Zugänglichkeit wertvoller Werke einschränken.”
Wenn der Copyright-Schutz endet, steigt die Verfügbarkeit
Wenn Healds Software tatsächlich zufällige Werte liefert, ist nicht erkennbar, wo die Ursache für eine systematische Verzerrung der Ergebnisse liegen könnte. Einschränkend muss man sagen, dass Healds Ergebnisse sich nur auf jene Werke beziehen, die Amazon in der Rubrik “Literature and Fiction” einordnet, darunter dürfte auch etwas Literaturkritik sein. Heald leitetet aus seinen Daten diese allgemeine Aussage ab: “Wenn Werke gemeinfrei werden, hat das einen positiven Effekt auf ihre Verfügbarkeit in Buchform.”
Leider hat Healds Team nicht die Verfügbarkeit von E-Book-Ausgaben untersucht. Es ist aber zu vermuten, dass hier ein ähnlicher Effekt zu beobachten wäre: Nach Ablauf der Schutzfrist steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein älteres Werk als Digitalausgabe zugänglich wird. Heald hält es für wahrscheinlich, dass eine Untersuchung diesen Effekt zeigen wird.
Bibliotheksverband verlangt Freiheiten für Digitalisierung
Nun kann man einwenden: Es ist doch gar nicht so schlimm, wenn es von vielen Werken keine Neuausgaben gibt – in Bibliotheken werden doch sicher die alten Ausgaben herumstehen, es gibt das Antiquariat, und die Büchereien können doch digitalisieren, das ist doch ihr Auftrag.
So ganz stimmt das allerdings nicht: Aufgrund knapper Budgets und restriktiven Urheberrechts können Bibliotheken nicht einfach so Werke digitalisieren und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Der deutsche Bibliotheksverband fürchtet, dass all die verwaisten und vergriffenen Werke in einer digitalen Zukunft nicht mehr der breiten Öffentlichkeit zugänglich sein werden. Der Verband warnt in einer Stellungnahme zum Tag des Buchs:
“Es gibt in Bibliotheken Hunderttausende von Werken, die derzeit nicht digitalisiert werden können, weil einer der Rechteinhaber unbekannt ist (verwaiste Werke). Außerdem gibt es sehr viele Werke, bei denen kein Verwertungsinteresse mehr besteht (vergriffene Werke).”
Der Verband fordert pragmatische Lösungen, die Bibliotheken die Digitalisierung dieser Werke erlauben.
Die Digitalisierung allein führt aber nicht dazu, dass verwaiste und vergriffene Werke wieder für die Allgemeinheit zugänglich werden. Bibliotheken dürfen in Deutschland jene Werke digitalisieren, die sie in analoger Form im Regal stehen haben. Aber diese E-Books dürfen dann Nutzern ausschließlich in den Räumlichkeiten der Bibliothek zugänglich gemacht werden – eine Absurdität angesichts der Möglichkeiten des Webs. Der Bibliotheksverband beklagt ein zu restriktives Urheberrecht, das es Bibliotheken im Rahmen der Schrankenregelungen (Sondergenehmigungen für bestimmte Nutzer, die der Allgemeinheit dienen) nicht einmal erlaube, E-Books über die Fernleihe anzubieten.
In Frankreich wurde im März ein Gesetz verabschiedet, das die Digitalisierung und Veröffentlichung von schätzungsweise einer halben Million im 20. Jahrhundert publizierter und heute verwaister oder vergriffener Werke erlaubt. Dem Gesetz zufolge soll eine Verwertungsgesellschaft die strittigen Rechte klären.
Dass in der deutschen Politik die Erhaltung, Digitalisierung und Zugänglichkeit von Büchern kein großes Thema sind, überrascht nicht weiter – es ist nicht einmal genug Geld für die Entsäuerung vergammelnder Bücher da.