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Das Böse ist immer und überall (Süddeutsche Zeitung, 27.4.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
2 minuten gelesen

Das Böse ist immer und überall

Das Sachbuch „Gefährliche Netze“ von Gerald Reischl.

Süddeutsche Zeitung, 27.4.2001

Natürlich muss es mit einem Mord beginnen. Nein, kein Kriminalroman, ein Buch über Gefährliche Netze. Unter dem Begriff handelt Gerald Reischl Internet, Mobiltelefone, Videoüberwachung und ein paar andere Dinge ab. Die Themenwahl macht mehr Sinn, als es beim ersten Hinsehen scheint. Technik hat nicht nur längst unsere Lebenswelten kolonialisiert – sie beginnt mit dem Menschen zu verschmelzen. Eine gewagte These – allerdings eine als Ausgangspunkt recht fruchtbare für eine Betrachtung der technologischen Gegenwart. Reischl wählt eine andere, weit simplere These: Seine Einleitung überschreibt er mit „Überleben im Web“, dann folgt der Mord an einem 15-jährigen Jungen durch Jugendliche, die er im Chat kennenlernte. 

Atemlos geht es weiter. Reischl „deckt auf“, wie es der Klappentext verspricht. Allerdings nur Tatsachen, die längst in der Presse oder Internet-Magazinen wie telepolis zu lesen waren: Im Netz sind sehr leicht sehr detaillierte Identitätsprofile zu erstellen, zahlreiche Unternehmen handeln damit, Geheimdienste überwachen E-mail- und Internetverkehr, ebenso die meisten Arbeitgeber. Solche Fakten darzustellen, um Thesen zu deren Verständnis zu entwickeln, ist nicht unredlich. Im Gegenteil, es könnte für die meisten neuen, jungen Nutzer des Netzes spannend sein, mehr über diesen Hintergrund zu erfahren.

Reischls These steht aber schon am Anfang fest, auf gut 200 Seiten entwickelt er seine Behauptung „das Böse ist immer und überall“ nicht weiter. Zum Chatten im Netz fällt ihm nicht mehr ein als: „So gibt es Gender-Changer, Geschlechts-Wechsler: Chatter, die vorgeben, eine Frau, bzw. Chatterinnen, die behaupten, ein Mann zu sein.“ Was offenbar per se etwas Schlimmes ist. Von Geschlechterrollen, dem Begriff des Gender, des konstruierten Geschlechts, und dem Spiel mit den Identitäten im Pop hat Reischl nichts gehört. Schade, aber nicht erstaunlich, dass er die faszinierenden Möglichkeiten, die sich hier im Chat ergeben, nicht erkennt. Aber kann man das dem Buch zum Vorwurf machen? In einer Sprache, die vor Formulierungen wie „abzuchecken“, „gedownloaded“ und „Business“ strotzt, ist keine Kulturgeschichte zu schreiben.

Aber auch nach den Kriterien eines Ratgebers funktioniert Reischls Buch nicht. Tipps für die eigene Sicherheit im Internet finden sich schon darin – allerdings liest man die auf solchem Niveau auch in den gängigen bunten Internet-Zeitschriften. Wirklich brauchbare Hinweise für anonymes Surfen etwa haben nur eine halbe Seite Platz. Die allseits hochgelobten Programme des kanadischen Unternehmens Zeroknowledge, für das einige der besten Kryptographen der Welt arbeiten, erwähnt Reischl komischerweise gar nicht. Und selbst ein Laie kann die Qualität von Reischls Tipp zur „Verschlüsselung“ von E-mails mittels weißer Schriftfarbe auf weißem Hintergrund beurteilen.

Interessante Thesen und nützliche Hinweise bietet dieses Buch nicht. Gelungen ist die Zusammenfassung der aktuellen Sachlage in einigen Bereichen der Informationstechnologie. Experten kennen die allerdings längst. Und Laien sollten sie nie in Reischls atemlosen Ton erzählt bekommen, sonst beginnen auch sie einem Medium die Eigenschaften seiner Nutzer zuzuschreiben. Denn: durch das Internet wird niemand zum Mörder, ebensowenig wie durch Privatfernsehen, Hörspiele, Abenteuerromane, Gaukler oder die Geschichtenerzähler am Höhlenfeuer.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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