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Das Leben, ein Roman von ganz unten (Bücher Magazin, 1/2006)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Das Leben, ein Roman von ganz unten

Warnung: »Das ist Gift, keine Literatur«. Auf jeden Fall ist es das Skandalbuch des Jahres. Von einer Frau, die mit 28 schon alles erlebt hat: Helen Walsh

Bücher Magazin, 1/2006

Die Kritiker und Leser in Großbritannien sind begeistert. Oder empört. Es gibt kein Dazwischen bei »Millie«, dem radikalsten, mutigsten, verstörendsten britischen Roman seit langem.


Als Helen Walsh mit 21 Jahren in Liverpool zu studieren beginnt, befassen sich ihre Kommilitonen vor allem mit Ecstasy – Studiengang Drogenkarriere. Das neue Erstsemster Walsh ist da schon weiter: Die Drogen hat sie längst hinter sich, ein Jahr lang hat sie sich wegen ihrer Schulden vor ihrem Dealer in Barcelona verstecken müssen. In Spanien vermittelte sie in einer Bar Kunden an Transvestiten, von irgendwas muss man ja leben. Und wahrscheinlich muss man dergleichen erlebt haben, um jetzt, mit 28, so altklug, zugleich aber so aufrichtig und unprätentiös reden zu können wie Helen Walsh. Sie kokettiert nicht, sie stellt fest: »Ich habe mit wirklich gefährlichen Männern geflirtet. Und ich bin damit durchgekommen.« Sie spricht sehr entschieden, sehr ernst, sehr geradeaus.

Ihre Stimme klingt älter als die junge Frau aus der Entfernung wirkt, mit ihren Sandalen, dem Tanktop, diesem sorglosen Gang. Ihre Stimme sagt: Manchmal sind die Dinge einfach so. Punkt. Ähnlich direkt ist Walshs Debütroman »Millie« (auf Deutsch im Februar 2006 bei KiWi), in Großbritannien das umstrittenste Buch der vergangenen Jahre. Walsh schreibt kaum erträglich detailliert, distanzlos über Sex. »Das ist keine Literatur – das ist Gift«, rief der Veranstalter einer Lesung empört, als Walsh vortrug, wie ihre Heldin eine Prostituierte mit einer Flasche befriedigt. Ja, »Millie« ist eine Geschichte über Sex, Drogen und das Erwachsenwerden der 19-jährigen Protagonistin gleichen Namens. Aber das ist nicht der Grund für den Ekel und die Begeisterung.

Fragt man Helen Walsh, warum ältere Buchhändler und Feministinnen sich über »Millie« empören, demontiert sie mit drei klaren Sätzen das Image der Skandalautorin. Ist es der Sex? Die Szene zwischen Millie und einer Prostituierten auf einem Friedhof am Buchanfang? »Daran hat sich nun wirklich niemand gestört. In England ist es recht verbreitet, dass junge Leute sich auf Friedhöfen vergnügen.« Ist es das Kokain, mit dem sich die amoralische, rücksichtslose, tollkühne Antiheldin antreibt? »Drogen sind in diesem Land doch längst kein Tabu mehr.« Was aber regt die Leser auf? Es muss Millie sein, über die der Roman so viel verrät, die uns aber dennoch unerträglich fremd bleibt. Sie ist jung, intelligent, kommt aus einer Professorenfamilie, studiert in Liverpool. Und sie richtet sich zugrunde, trinkt, kokst, stiehlt, vergewaltigt, wütet.

Millie ist maßlos und egoistisch, sie ist vulgär und verletzlich. Und wir begreifen nicht, warum. Sie kann doch so nett, so charmant, so feinfühlig sein. Doch vor allem ist diese Heldin fremd, überall: Unter Frauen, weil sie sie begehrt, weil sie sie wie ihre besten Kumpel nur als Mütter oder Huren betrachtet. Zu Hause, weil ihr etwas fehlt, seit die Mutter vor zwei Jahren verschwand. Weil etwas unausgesprochen, verdrängt, zwischen ihr und dem Vater steht. Unter ihren Kumpel, weil die Arbeiterkinder merken, wie anders die Professorentochter Millie ist. »Sie ist blasiert «, denkt ihr bester Freund Jamie. Nicht wegen ihrer Herkunft und ihrer Privilegien. Sondern weil »sie all das nicht nutzt«. Weil Millie »ihre Tage in den schmierigen Schuppen hinter der Uni verbraucht. Verdammt, was versucht sie zu beweisen?«

Vielleicht will sie nur vergessen. Exzess aus Verzweiflung – das ist auch die Geschichte Liverpools, Englands großer Hafenstadt, die vor einem halben Jahrhundert zu sterben begann, aber noch immer nicht tot ist. Arbeiterviertel sind zu Arbeitslosenvierteln geworden, ganze Stadtteile verfallen. Doch zugleich lebt die Jugend dieser Stadt Großbritannien einen neuen Hedonismus, tanzt zu House die Wochenenden durch und weiter, bis Montag, bis Dienstag. Helen Walsh, hier aufgewachsen, sagt: »Ich kenne keine Stadt, die das Wochenende, das Konsumieren so zelebriert wie Liverpool. Sei es Essen, sei es Musik, seien es Drogen.« Wenn Helen Walsh so redet, hört man ihre eigene Geschichte, die Reste des harten Dialekts der britischen Arbeiterklasse. Sie spricht sehr gewählt, von Prostituierten statt von Nutten, von Kokain statt von Koks, von autobiographischen Manifestationen statt von ihrer eigenen Geschichte.

Doch wenn ein Gedanke sie packt, redet sie plötzlich schneller, härter, abgehackter und man hört die Tochter eines Gabelstaplerfahrers und einer malaysischen Krankenschwester, die im Ex-Industriezentrum Warrington zwischen den Flughäfen von Liverpool und Manchester aufwuchs. Nein, »Millie« ist gewiss keine Autobiographie. Doch Helen Walsh kennt diese quälende Distanz zur Welt, die Millie ständig spürt. Die Welt ist Millie so fremd, wie Walsh sich ihr Leben lang fühlte – als einziges Arbeiterkind an einer Eliteschule, als einzige Dunkelhäutige in einem weißen Viertel, als einziges Mädchen, das im Kindergarten Action Man den Barbies vorzog, als einzige Erwachsene unter pubertierenden Studenten. Helen Walsh war immer anders: »Ich hatte immer einen männlichen Blick auf das Leben«, sagt sie. Ihre Ausbildung war anstregend: »Meine Eltern haben hart dafür gearbeitet. Ich wollte sie nicht enttäuschen, das hat mich hart arbeiten lassen, bis ich 13 war.« Bis dahin las die einsame Helen Walsh noch Enid Blyton und schrieb in der Grundschule die zuckrige Kindergeschichte »Das letzte Einhorn«.

Dann hat die Literatur sie fürs Leben verdorben. Vorzeigeschülerin Helen Walsh nahm aus der Stadtbibliothek Hubert Selbys »Letzte Ausfahrt Brooklyn« mit, den New-York-Roman über Nutten, Schwule, Transvestiten und die dunkle Seite des amerikanischen Traums. »Seitdem habe ich bis vor kurzem kein Buch einer Frau mehr angefasst«, sagt Walsh. Stattdessen las sie mit 13 John Steinbeck, Charles Bukowski, John Fante, Irvine Welsh – den harten Stoff also. Und so klingt ihr Roman. Ob es nun der Sound ihrer Leseerfahrung oder der ihres Lebens ist? Das kann niemand trennen und es ist ohnehin ein müßiges Unterfangen.

Ja, Helen Walsh hat mit 13 Ecstasy geschluckt, sie hat mit 14 gestohlen und erpresst, um Kokain zu kaufen, sie ist mit 16 vor einem Dealer nach Barcelona geflohen. Vielleicht haben Bukowski, Fante und Welsh sie dazu inspiriert, vielleicht hat sie bei ihnen aber auch nur eine Sprache für ihr Leben gefunden. Wie auch immer: All das hat den Ton von »Millie« geprägt, die Härte, die überhaupt nicht sensationalistische Unmittelbarkeit. »Millie« ist einmalig, eine Geschichte übers Erwachsenwerden eines Mädchens ohne Tagebucheinträge, Schwärmereien, Freundinnengespräche und Milchkaffee. Die Heldin ist so roh und direkt wie die Sprache, wie der Sex in diesem Buch. Millie ist die Jägerin, nicht das Opfer. Sie lacht über andere, nie über sich. Schokolade zum Frühstück? Probleme im Job?

In zu teure Schuhe verguckt? Nein, Millies Charakterschwächen haben eine andere Qualität, sie sind primitiver, menschlicher. Selbstironie hilft da gar nicht: »Manchmal bin ich erschrocken über das Mädchen, das mich drohend aus dem Spiegel anblickt. Ich kenne sie nicht und ich mag sie nicht.« Das ganze Buch tritt zu wie dieser Satz. Bei Walsh haben die schönen Menschen mehr Spaß als die hässlichen. So ist das Leben. »Es wird immer Hierarchien geben, wenn es um Sex geht. Man muss sich von der Masse abheben, um zu gefallen. Letztendlich geht es auf diesen simplen Grundsatz zurück: Die Bestangepassten überleben«, sagt Helen Walsh. Schon wieder solch ein absoluter Satz. Helen Walsh denkt eine Sache durch und sie sagt, was sie denkt. Nach der Zeit im Rotlichtmilieu Barcelonas nach Liverpool zurückgekehrt, legte sie an der Universität den besten Soziologieabschluss der vergangenen acht Jahre ab.

Die These ihrer Doktorarbeit: »Wenn Pornographie ein so gefährliches Frauenbild vermittelt, muss das Männerbild auch schädlich sein.« Walsh legte sich mit dem akademischen Establishment und den Feministinnen an. Ihre Kommilitonen konnten sie auch nicht ausstehen. »Helen Walsh ist eine eingebildete und unausstehliche Kuh«, stand eines Tages an der Wand eines Uniklos. Heimisch ist die hochintelligente Autorin auch an der Uni nicht geworden. Das scheint Helen Walsh nicht weiter zu stören. Sie wirkt entspannt, natürlich – vielleicht, weil sie sich nicht verstellen muss, weil sie nicht bemüht originell ist zu wirken, sondern es einfach ist. Helen Walsh lebt heute in einem Dorf bei Liverpool. Mit 28 ist ihr die Stadt zu wild geworden. Sie trinkt einen Tee in der Teestube, radelt mit dem Fahrrad durch die Landschaft, geht nach Hause, um an ihrem zweiten Roman zu schreiben. »Sehr idyllisch«, sagt sie. Ohne Ironie. Um das mit 28 zu genießen, um einen Roman wie »Millie« schreiben zu können, muss man wohl wirklich erlebt haben, was Helen Walsh erlebt hat. Die Welt, so verkommen, so anrührend, so widerwärtig, so lebendig wie sie ist. Wie wunderschön.

ENGLISCH: HELEN WALSH: BRASS, CANONGATE, 296 SEITEN, CA. 15,80 €
DEUTSCH (20.2.2006): HELEN WALSH: Millie
, KIWI, 304 SEITEN, 9,90 €


Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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