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Das Mitmach-Netz: "Verpiss dich, du Schlampe" (Spiegel Special, 3/2007)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
6 minuten gelesen

Das Mitmach-Netz

"Verpiss dich, du Schlampe" 

Pöbeleien, Lügen, Morddrohungen – der Ton in Internet-Journalen ist rau. Blogger diskutieren über einen Verhaltenskodex.

Spiegel Special, 3/2007

Seine erste Morddrohung las Sascha Lobo im Februar – und mit ihm das gesamte Publikum seines Weblogs: "Wenn ich einen von euch zu Gesicht bekomme, werden wir Blutpolka tanzen. Step by Step", schrieb jemand unter dem Pseudonym Patrick auf Lobos Internet-Seite. Der 32-jährige Berliner antwortete zwölf Minuten später: "Oh, eine Gewaltandrohung. Die zeugt natürlich von solidem Stand mit beiden Beinen in der Realität." Deutschlands, da ist man einen rauen Ton gewöhnt. Zum Beispiel: "Mittestricher", "Werbehure", "Strichjunge" – so haben andere Blogger Lobo genannt, als er mit Kollegen den ersten deutschen Blog-Werbevermarkter Adical gründete.

Pöbeleien, Drohungen, Unflätigkeiten – Einzelfälle in Weblogs, aber Einzelfälle, die täglich vorkommen. Der Leipziger Kommunikationsforscher Ansgar Zerfaß hält das für die traurigen Begleiterscheinungen eines ganz normalen Lernprozesses: "Man befreit sich von den sozialen Regeln anderer Kommunikationsformen, ohne dass sich schon neue etabliert haben."

Aber so leicht wie Sascha Lobo schütteln nur wenige Blogger Verwünschungen und Beleidigungen ab. Ein Fall aus den Vereinigten Staaten hat in diesem Frühjahr die Blogosphäre aufgerüttelt. Ende Februar schrieb ein anonymer Kommentator in das Weblog der US-Programmiererin Kathy Sierra: "Verpiss dich, du langweilige Schlampe. Ich hoffe, jemand schneidet dir den Hals auf." Es folgten Vergewaltigungsphantasien, Morddrohungen, Folterszenarien. Sierra gab ihr Blog auf, hält keine Vorträge mehr. Sie sagt: "Was ich erlebt habe, ist nicht so ungewöhnlich, wie viele denken."

Schockiert von diesen Drohungen, forderte Web-Guru Tim O’Reilly einen Verhaltenskodex für Blogger. Sie sollten, meint O’Reilly, "nichtakzeptable" Beiträge zensieren, das Urheberrecht respektieren, anonyme Kommentare prinzipiell verbieten. Sofort brach eine heftige Debatte los. Prominente Blogger kritisierten O’Reillys Vorschläge: Robert Scoble erklärte, der "soziale Druck" zur Anpassung "beunruhige" ihn, IT-Blogger Michael Arrington schrieb, er werde "einen Mob nicht entscheiden lassen, welche Inhalte inakzeptabel sind".

Die Diskussion über Professionalisierung und Selbstregulierung griffen deutsche Blogger im April auf der Berliner Blogger-Konferenz "re:publica" auf. Die meisten waren skeptisch. Selbstbeschränkung? Sascha Lobo formulierte für viele: "Vor die Wahl gestellt, würde ich mich lieber in Blogs wüst beschimpfen lassen, als dass ein Kodex ein eventuell wichtiges Posting verhindert."

O’Reillys Initiative versandete. Kathy Sierra sagt: "Die Debatte hat die Blog-Szene weitergebracht, hat einigen ins Bewusstsein gerufen, was ihr und das Verhalten anderer auslöst, wenn eine Grenze überschritten ist." Doch Sierra ist sich auch sicher: "Eine Selbstregulierung hätte in einem Fall wie meinem nicht geholfen."

Aber was kann man tun? Ignorieren ist nur selten hilfreich. Denn oft vermischen Blogger ihre Attacken mit falschen Tatsachenbehauptungen. So hieß es in Sierras Fall, sie habe "lukrative Beratungsaufträge" und "bezahlte Auftritte" durch ihr Weblog akquiriert. Das sei nicht wahr, sagt sie. Aber steht der Vorwurf einmal im Internet, stoßen noch Jahre später alle Web-Nutzer darauf, die nach einem bestimmten Namen suchen. Kommunikationswissenschaftler Zerfaß nennt dies den "Methusalem-Effekt des Internets".

Doch aus dem Versuch, ein paar Fakten richtigzustellen, wird in Blogs manchmal ganz schnell ein erbitterter Krieg. Da vermischen sich Tatsachen und Behauptungen, da wird aus einer Anmerkung ein Seitenhieb, aus einer Erwähnung eine Beleidigung, und irgendwann weiß niemand mehr so recht, wie das alles angefangen hat.

Wie zwei Blogger sich ineinander verbeißen, zeigt beispielhaft die Fehde zwischen dem Medienjournalisten Peter Turi und dem Buch- und Blog-Autor Rainer Meyer alias Don Alphonso. Sie fallen seit Jahren immer wieder einmal verbal übereinander her, da nennt Meyer Turi einen "Blog-Versager", "Pleitier" und Teil der "Hurnaille". Und Turi bloggt dann manchmal Sätze wie diesen: "Er wäre gern der Pate der Blogs – Don Alphonso. Aber er ist nur Rainer Meyer: großes M* * * und kleine E* * *." Und so weiter. Das schaukelt sich so weit hoch, dass Turi Kommentare in seinem Blog teilweise löscht, weil die anonym von einem Turi-Fan gegen Meyer ausgestoßenen Beleidigungen justitiabel sind.

Die Angst, von Anwälten für die eigenen Blog-Einträge oder Leserkommentare belangt zu werden, wächst unter deutschen Bloggern. Im März hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass Betreiber von Internet-Foren für Beleidigungen durch Dritte haften – sie müssen strafbare Äußerungen löschen, sobald sie Kenntnis von ihnen haben.

Für eigene Kommentare werden Blogger ohnehin regelmäßig zur Rechenschaft gezogen – beispielsweise der Berliner Marcel Bartels, der knapp zwei Jahre über allerlei echte und vermeintliche Skandale auf der Seite Mein-Parteibuch.de schrieb. Er begann im Mai 2005. Im Januar 2007 hatte er so viele Abmahnungen erhalten, dass er kapitulierte: "Ich beabsichtige nun, keine neuen kritischen Beiträge auf meiner Webseite Mein-Parteibuch.de mehr zu veröffentlichen."

Ein anderes Beispiel: Blogger Tobias Battson schrieb im Oktober 2005 skeptisch über das Konzept eines Internet-Dienstes. Viele Ex-Kunden des Anbieters kommentierten den Blog-Eintrag. Ein Jahr später, im Oktober 2006, bekam Battson vier Abmahnungen an vier Tagen, unter anderem wegen unlauteren Wettbewerbs, Kreditgefährdung, sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung, Gesamtstreitwert 90 000 Euro. Der Blog-Eintrag ist inzwischen gelöscht, das Verfahren anhängig.

So schaffen Unternehmen es manchmal, Blogger zum Schweigen zu bringen. Versuchen Privatleute das, bewirken sie aber zuweilen das Gegenteil. So der Berliner Torsten R., der eine Website mit erotischen Inhalten und eigenwilliger Rechtschreibung betrieb, was viele Blogger hämisch kommentierten. R. wehrte sich, klagte gegen viele Blogger – und scheiterte. Die Klagen wurden abgewiesen und brachten dem Betroffenen noch mehr unerwünschte Publizität. Eine Google-Suche zeigt das ganze Ausmaß der Katastrophe, im Web steht sogar ein Urteil des Berliner Amtsgerichts Hohenschönhausen, in dem es heißt: "Der Verfügungskläger bietet Dienste eines Callboys an."

Einen der von R. verklagten Blogger hat Rechtsanwalt Sascha Kremer vertreten. Der Jurist berät oft Blogger, schreibt selbst ein Weblog. Er warnt vor voreiligen rechtlichen Schritten: "Das ist meist die Initialzündung für öffentliche Diskussionen, die weitaus schwerwiegendere Folgen haben können als die Ausgangsnachricht." Wer klagt, hat meist deshalb schon die Blogger-Gemeinde gegen sich. Neue Beiträge tauchen auf, der Klagende reagiert wieder mit rechtlichen Schritten, und es geht weiter wie beim Blogwar zwischen Turi und Alphonso – nur wird es wegen der Anwaltsgebühren ungleich teurer. Also rät Kremer Betroffenen, generell erst einmal Kontakt zum Verantwortlichen zu suchen. Helfe das nicht, könne man immer noch mit einem Anwalt über weitere Schritte beraten.

Auf solche Verhandlungslösungen hat sich das amerikanische Unternehmen ReputationDefender spezialisiert. Gegründet hat es im vorigen Oktober der Harvard-Jurist Michael Fertik. Inzwischen arbeiten 40 Leute für die Firma, die Kundenzahl wächst Monat für Monat mit zweistelligen Prozentraten – und Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten der zweitwichtigste Markt. Wer wendet sich an ReputationDefender? Zwei Fälle: Die Mitarbeiterin einer Schweizer PR-Agentur googelt ihren Namen, entdeckt ein Blog, wo sie als Lesbe bezeichnet wird. Eine Berliner Restaurantbesitzerin, die sich in einer Stadtteilinitiative engagiert, wird von einem Blogger Rassistin genannt. Und so weiter. Fertiks Mitarbeiter schreiben die Autoren der Einträge an, fragen höflich. Manchmal lassen sie sich auf einen Kompromiss ein: Verschwindet der Nachname, kann ein Blogeintrag bleiben – schließlich ist er ohne dieses Detail nicht mehr bei einer Namenssuche aufzufinden. Lassen Blogger sich darauf nicht ein, fragt ReputationDefender weniger höflich. Wenn das nicht hilft, sprechen sie mit dem Internet-Provider, auf dessen Servern das Blog liegt. Und in den Vereinigten Staaten schaltet ReputationDefender als letzten Schritt Anwälte ein. "Aber das ist für keinen Beteiligten gut", sagt Fertik.

Solange einige Blogger die Regeln des guten Benehmens missachten, werden manche Konflikte so eskalieren. Das ist die Kehrseite der Subjektivität und des scharfen, persönlichen Tons, die viele Weblogs unverwechselbar machen. Darauf will ein Blogger wie Peter Turi nicht verzichten: "Warum sollen wir dem Zügellosen Zügel anlegen, dem Ungeregelten Regeln verpassen, dem frei Atmenden ein Korsett anlegen?"

Vielleicht, weil einige Leser Zügel wollen. Denn nicht jeder hat eine so dicke Haut wie Sascha Lobo, der sagt: "Der Ton in Blogs ist wohl nicht rauer als anderswo. Der Unterschied ist: Was man früher nur hinter dem Rücken anderer flüsterte, bleibt heute für jeden sichtbar lange Zeit stehen."

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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