Datenschutz-Kritik: Feinde der Freiheit (Spiegel Online, 27.10.2011)
Datenschutz-Kritik
Feinde der Freiheit
Fundamentalkritik am Datenschutz: Wer reguliert, schränkt Freiheit ein, behaupten Autoren wie Jeff Jarvis und Christian Heller. Ihre Thesen jedoch widersprechen sich – der eine fürchtet die Übermacht der Datenschützer, der andere ihre Ohnmacht. Der Freiheit dient beides nicht, im Gegenteil.
SPIEGEL ONLINE, 27.10.2011
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Der amerikanische Journalistikprofessor Jeff Jarvis legt in seinem Buch “Public Parts” dar, warum wir seiner Ansicht nach alle davon profitieren, wenn wir auf Privatsphäre verzichten. Jarvis fürchtet, dass zu viel Datenschutz technische und gesellschaftliche Innovationen behindert, die das Gemeinwohl steigern würden, wie er glaubt. Wie viel Privatsphäre zu viel ist, präzisiert er nicht.
Das vage “Wir” im Untertitel des Buchs (“Wie Teilen im digitalen Zeitalter die Art verändert, wie wir leben und arbeiten”) ist ein Hinweis auf eine beunruhigende Haltung, die Jarvis mit anderen Datenschutz-Kritikern teilt: Im Zentrum ihrer Theorien steht nicht das Individuum, sondern Technologie und ein vage definiertes Kollektiv.
Geringschätzung gegenüber dem Einzelnen und seiner Freiheit, eigene, unabhängige Entscheidungen zu treffen, scheint in vielen von Jarvis’ Anekdoten durch. So erzählt er zum Beispiel, er frage bei Vorträgen das Publikum, ob sie gelegentlich im Web nach Ex-Freunden und -Freundinnen suchen: “Einige heben die Hände, einige nicht – ich gratuliere den ehrlichen.” Jarvis relativiert diese Wertung nicht. Er impliziert: Wer die Hand nicht hebt, lügt. Wer sich dazu einfach nicht äußern will, ist unehrlich.
Jarvis: “Reden Sie mit Ihrem Psychiater darüber”
Solche Wertungen tauchen immer wieder auf. Mit unvorteilhaften Netz-Suchtreffern zur eigenen Person solle man umgehen, indem man selbst mehr veröffentlicht, schreibt Jarvis: “Die beste Lösung ist es, man selbst zu sein. Wenn Sie sich dabei unbehaglich fühlen, reden Sie mit Ihrem Psychiater darüber.” Den Rat sollte er mal jemandem geben, dessen Privatpornos ein anderer mit Namensnennung in Foren veröffentlicht hat. Jarvis diagnostiziert, eine “Armee von Datenschützern” warne vor Gefahren durch zu viel Offenheit im Web. Tatsächlich seien “wir” in Gefahr, die Chancen neuer Technik zu verpassen, wenn “wir” zu sehr darauf bedacht seien, “unsere Bunker zu bauen”.
Was Jarvis als Bunkermentalität denunziert, ist das Recht jedes Menschen auf ein – die Grenzen anderer achtend – selbstbestimmtes Leben. Datenschutz schränkt nicht die Freiheit eines Web-Nutzers ein, die eigenen Trainingsdaten, Einkäufe oder Krankheitsgeschichten im Netz zu veröffentlichen. Richtig umgesetzter Datenschutz stärkt die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob man so etwas tun will. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung haben deutsche Verfassungsrichter aus den ersten Artikeln des Grundgesetzes abgeleitet: Die Würde des Menschen ist unantastbar, jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.
Wie balanciert man Grundrechte im Netz aus?
Die Probleme beginnen, wenn die Rechte eines Menschen die anderer berühren. Auch wenn es wahr ist, dürfen Journalisten trotz des Rechts auf freie Meinungsäußerung nicht alles über jeden schreiben. Weil das die Rechte anderer berühren könnte, kann ich auch nicht einfach jedes Foto ins Netz stellen, auf dem andere Menschen zu sehen sind – das schränkt meine Freiheit ein, weil sonst die Freiheit Dritter missachtet würde. Diese Balance muss immer wieder neu ausgehandelt werden.
Jarvis beschreibt anhand von Beispielen, wie schwierig es ist, diese Balance bei neuen Web-Diensten zu finden. So arbeitet er sich zum Beispiel an der Street-View-Debatte in Deutschland ab. Anfang 2010 behauptete die Verbraucherministerin Ilse Aigner noch, Googles “flächendeckende Fotoaktion” sei “nichts anderes als eine millionenfache Verletzung der Privatsphäre”.
Verpixeln ist Zensur
Jeff Jarvis hält das zu Recht für Unsinn. Er hält sich aber nicht mit Details auf. Für ihn ist die Verpixelung in jedem Fall “Zensur”. Deutschland solle sich seiner Nazi-Vergangenheit erinnern, das Verpixeln von Häusern sei ein gefährlicher Präzendenzfall, da ja nun jeder mächtige Bösewicht mit derselben Datenschutz-Argumentation Journalisten einen Maulkorb verpassen könne. Dabei wurde nicht auf Wunsch des Gesetzgebers verpixelt – Google und später Microsoft räumten selbst eine Widerspruchsmöglichkeit ein, als Folge öffentlichen Drucks.
Zudem schränken deutsche Gesetze und Richter gelegentlich sehr wohl die Rechte Mächtiger ein. Wer zum Beispiel das Haus eines prominenten Steuersünders fotografiert, wenn die Staatsanwaltschaft zur Durchsuchung anrückt, kann sich bei der Veröffentlichung dieser Aufnahmen auf das Grundrecht auf Meinungsfreiheit berufen.
Jarvis schreibt über solche Abwägungen: “Es ist eine gefährliche Unterscheidung, wenn sie von Fall zu Fall getroffen wird.”
Allein: Wie denn sonst?
Jarvis nennt die Aufregung über bestimmte staatliche Überwachungsmaßnahmen pauschal “Medienklamauk”. Natürlich sei Terrorismus ein Extremfall, der genutzt werden könne, um weitreichende staatliche Maßnahmen durchzusetzen. Natürlich brauche es Schranken. Aber Terrorismus sei ja nun einmal Realität. Hier will er dann doch Abwägung gelten lassen.
Heller stellt den Rechtsstaat in Frage
In diesem Punkt unterscheidet sich Christian Hellers Fundamentalkritik am Datenschutz grundlegend von der von Jarvis: Während Letzterer dem Staat unter Umständen erweiterte Zugriffsrechte zubilligt, hält Heller gerade den Staat für einen großen, potentiell bedrohlichen Datensammler. In “Post-Privacy” schreibt er, der Datenschutz gerate durch die Verrechtlichung “in eine riskante Schicksalsgemeinschaft” mit dem Staat, jenem “Datensammler, vor dem er in erster Linie schützen soll”.
Diese Kritik hat nur Bestand, wenn man wie Heller den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung grundsätzlich in Frage stellt. Heller bezeichnet Grundrechte als “Ideen-Korpus rund um die ‘Menschenwürde'”, mit dem “die Bundesrepublik ihren Wertekanon und Auftrag rechtfertigt”. “Menschenwürde” in Anführungszeichen, teils fundamentale Zweifel an Menschenrechten und dem Rechtsstaat – dem kann man pragmatisch entgegenhalten: Bislang hat kein System mehr Menschen mehr Freiheit über einen vergleichbaren Zeitraum gewährleistet.
Sind Datenschützer machtlos oder übermächtig?
Hellers Buch ist ein interessantes Korrektiv zu Jarvis. Beide vertreten dieselbe These (die schädlichen Auswirkungen von Datenschutz und Privatsphäre überwiegen), argumentieren jedoch unterschiedlich und widersprechen einander in vielen Punkten. Jarvis sieht uns durch eine übermächtige Datenschutzlobby (“Es ist viel Geld mit Datenschutz zu verdienen”) gefährdet. Heller hingegen beklagt ein “faktisches Vollzugsdefizit des Datenschutzes”. Weil Gesetzgeber, Datenschützer und Bürger – angeblich – angesichts der Technik so machtlos sind, solle man die Versuche gleich einstellen, Grundrechte weiterhin auszubalancieren.
Wie geht man mit Fällen um, in denen zu viel Offenheit dem Einzelnen schaden kann? Jarvis schreibt vage, man müsse das alles neu abwägen. Doch bei Beispielen wird er konkret: Wer ein Problem damit hat, bestimmte Dinge zu veröffentlichen, sollte seine Haltung ändern. Übergewichtige Menschen zum Beispiel solle man animieren, offen über ihr Probleme zu sprechen, und andere auffordern, ihnen Hilfe anzubieten. Jarvis fragt rhetorisch: “Wäre das nicht besser, wäre das nicht gesünder?”
Weil Jarvis gute Erfahrungen mit viel Offenheit gemacht hat (wenn er sich öffentlich über Technikprobleme beschwert, reagieren die Firmen sofort), postuliert er dieses Verhalten als für alle gut und richtig.
Jede Technik schränkt per Design Freiheit ein
Jarvis spricht dem Individuum die Fähigkeit und das Recht ab, selbst zu entscheiden. Er will nicht den Einzelnen ermächtigen, seine Grundrechte auch in der “verdateten Gesellschaft”, wie Heller das nennt, wahrzunehmen. Er plädiert dafür, Datenschutz als Ethik der Datenverarbeitung neu zu interpretieren. Die Kontrolle soll sich vom Individuum zum Datenverarbeiter verlagern. In der Praxis stellt er sich das so vor: Jarvis fragt Menschen, deren Konversationen er im Web veröffentlicht, ob sie damit einverstanden sind. Doch kann man so viel Rücksicht einfach bei allen, auch bei Unternehmen, voraussetzen?
Heller hingegen erhebt die von ihm als naturgegeben suggerierte freie Struktur des Netzes über die Freiheit Einzelner. Er behauptet, der Datenschutz wolle “nur die Datenströme kontrollierbar machen”. Dieser konstruierte Gegensatz von freier Netzwerktechnik und freiheitsraubender Regulierung ignoriert, dass alle Dienste im Netz von Menschen, vor allem von Unternehmen konstruiert werden, um bestimmten Interessen zu dienen. Jede Technik kontrolliert qua Design ihre Nutzung.
Heller setzt auf “andere Techniken der Privatsphäre”, für deren Einsatz das Individuum allein verantwortlich sei: “Anonymität, Pseudonymität und der persönliche Gebrauch von Verschlüsselungstechnologie setzen weniger auf Gesetze zu ihrer Durchsetzung, sondern eher auf den individuellen Einsatz technischer Mittel.” Heller will die Verantwortung allein dem Individuum zuschieben, Jarvis dagegen setzt auf die korrigierende Kraft des Kollektivs. Einig sind sie sich nur im Bezug auf die Rolle der Datenschützer: Die sollen sich gefälligst still verhalten.
Was beide auslassen: Sowohl die Ethik der Datenverarbeitung als auch eine Praxis der Pseudonymisierung kommen nicht ohne die Ermächtigung des Individuums durch Grundrechte aus. Wenn bestimmte Dienste eine pseudonyme Nutzung unterbinden (Google+, Facebook, etc.), wenn Datenverarbeiter gegen eine in welcher Form auch immer festgeschriebene Ethik verstoßen, wird der Einzelne dagegen ohne einklagbare Rechte nichts ausrichten können.
Christian Heller: Post Privacy: Prima leben ohne Privatsphäre. C. H. Beck; 174 Seiten; 11,95 Euro.
Jeff Jarvis: Public Parts: How Sharing in the Digital Age Improves the Way We Work and Live. Simon & Schuster; 263 Seiten; 20,79 Euro.