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Der Chip auf unserer Haut (Süddeutsche Zeitung, 7.2.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Der Chip auf unserer Haut

Als T-Shirt oder elektronische Wolke: Alte und neue Visionen von der Zukunft des Computer

Süddeutsche Zeitung, 7.2.2001

Jede bedeutende Technologie verschwindet, bevor sie als solche erkannt wird. Die Schrift musste erst jemand als Keilschrift aus der Erde buddeln, damit sie im Alltag als revolutionär wahrgenommen werden konnte. Und jetzt sind es die Computer, die verschwinden. Die Zeiten der Rechenmaschinen in Lastwagengröße sind schon lange vorbei – doch in den Alltag sind sie noch immer nicht verwoben. Computer sind Kästen, die meist schon im Wohnzimmer stören. Die Metapher heutiger Betriebssysteme ist seit den frühen 80er Jahren dieselbe: ein virtueller Schreibtisch, auf dem der Nutzer Informationen in Fenstern sammelt und verarbeitet – wie in alten Aktenordnern. Ein Bildschirm-Arbeitsplatz eben.

Das soll bald alles anders werden: Auf einer Konferenz am Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) überlegt man gerade, wie die Funktionen des herkömmlichen Computers neu verteilt werden können: „The future technology of fashion – Why wear IT?“ Ja, warum eigentlich? Weil der Abstand zwischen Mensch und Computer, sagen die Konferenzteilnehmer, eigentlich kaum kleiner werden kann als der zwischen Jacke und Träger. Ein solcher Anziehcomputer soll „Leibeigener“ werden. Marc Weiser vom renommierten Palo Alto Research Center spekulierte über diese Art von Computern schon 1996: „Während der ersten Welle der Informationstechnologie von 1940 bis etwa 1980 waren es die Menschen, die dem Computer dienten. In der zweiten Welle starrten sich Mensch und Computer über dem Schreibtisch an, ohne jeweils Teil der Welt ihres Gegenübers zu sein. Die dritte Welle beginnt gerade: Viele Computer dienen einem Menschen, überall auf der Welt.“ Die Welt des Computers soll mit der des Menschen verschmelzen – der Rechner soll im Alltag aufgehen, nicht mehr als eigenständiges Ding sichtbar sein. Auf dass er die Grundlagen des Lebens ebenso unbemerkt revolutioniere wie die Kanalisation, ohne die es kaum moderne Urbanität gäbe.

Ein solches Verschwinden bedeutet eher ein Verweben in die Struktur des Alltags. Asha Peta Thompson, Teilnehmer der Diskussion am ICA, arbeitet an einer Art sprechendem T-Shirt: Thompson entwickelt am Design for Life Centre der britischen Brunel University Hilfsmittel für Menschen mit Sprachproblemen – etwa an einem Sprachcomputer, der über die Oberfläche eines Kleidungsstücks gesteuert wird.

Die Vision von Steve Mann, Professor an der Universität Toronto, kennt jeder, der „Terminator“ gesehen hat. Einige Szenen waren aus der Perspektive des Cyborgs zu sehen. Mehr oder weniger sinnige grafische Informationen legten sich über die Wirklichkeit. Mann hat einen Computer entwickelt, der samt Funkmodem am Gürtel zu tragen und über eine Einhandfernbedienung zu nutzen ist. Informationen – das fängt bei der Uhrzeit an – werden auf die Gläser eine Brille gespiegelt. Und das sieht dann ganz ähnlich aus wie der Blick des Cyborgs auf die Welt des Jahres 1987.

Genau das ist das Problem bei Entwürfen wie dem von Steve Mann. Sie sind eine Projektion der Gegenwart in die Zukunft nach den Maßgaben eines James-Bond-Films. Technik muss zugleich vertraut und spektakulär sein. Und sie muss aus dem Gebiet der aktuell führenden Leittechnologie kommen. Raketen sind ein ebenso altes Konzept wie das Auto. Raketen am Auto hingegen wirken spektakulär, futuristisch und gleichzeitig vertraut – man kennt die Idee, obwohl sie in der Wirklichkeit noch gar nicht existiert. Genauso verhält es sich mit IBMs Prototyp eines Thinkpads, der am Gürtel getragen und über Sprache gesteuert werden kann. Es ist dasselbe Konzept wie ein Computer auf dem Schreibtisch, nur eben kleiner. Information wird weiterhin zentralisiert, der Computer besitzt ein Monopol auf ihre Verarbeitung. Seine Haupteigenschaften sind nicht Kommunikation und Verknüpfung, sondern Zentralisieren und Trennen von Information: Da passt immer noch die Metapher von den Ordnern auf dem Schreibtisch.

Neu an Anziehcomputern ist nicht ihre Größe – entscheidend ist, dass sie keine Computer mehr sind. Die Funktionen heutiger Computer werden immer mehr Geräte übernehmen: DVD-Spieler, Mobiltelefone, PDAs, Subnotebooks, Laptops, Heimcomputer. Gleichzeitig vereinheitlichen sich die Protokolle, mit denen Texte, Filme, Emails, Musikstücke übertragen werden: Das könnte das Ende des „Zentral“-Computers sein.

In den USA hat die Defence Advanced Research Projects Agency das Internet und frühe Großrechner in Universitäten finanziert. Heute arbeitet sie an Netzwerkarchitekturen, die bis zu 100  000 Komponenten verbinden und es ihnen ermöglichen, in Sekundenbruchteilen als kollektive Intelligenz zu handeln. Da schwirrt ein Sensorenschwarm über feindliche Linien und versucht Funkverkehr aufzuspüren. Ein Sensor teilt seine Entdeckung allen anderen mit, woraufhin sie kollektiv ihr Verhalten ändern und den Funkverkehr stören. Kein Computer, nirgends. Die Metapher des Computers der Zukunft ist nicht der Schreibtisch als Fixpunkt, sondern eine elektronische Wolke, die ihren Besitzer umgibt.

Jack Mama entwickelt bei Philips Design so genannte „Wearable Electronics“. Der Begriff ist bewusst gewählt: „Wir machen keine Computer zum Anziehen. Der Computer wird sich bald in verschiedene Formen auflösen.“ Nicht alle Teile der elektronischen Wolke können alles tun, aber sie können sich gegenseitig beauftragen und Ergebnisse austauschen. Nicholas Negroponte sprach schon 1995 von „things that think“. Damit meinte er Dinge wie Bugs-Bunny-T-Shirts, die per Global Positioning System den Eltern mitteilen, wo ihre Kinder stecken; oder Schuhe, die mit jedem Menschen, den man berührt, elektronische Visitenkarten austauschen.

Das klingt eher nach Asha Peta Thompsons sprechendem T-Shirt als nach IBMs Anziehcomputer. Letzterer erinnert an die Spekulationen über virtuelle Realität Anfang der 90er Jahre. Damals hieß es, große, teure, aufwendige Computer würden bald allein damit beschäftigt sein, den Cyberspace zu produzieren – jene Projektion des Gedankens von der Final Frontier, die es in vermeintlich immer neue Weiten voranzutreiben galt. Statt dessen werden Computer in Zukunft immer kleiner und einfacher. Sie verschwinden im Gewebe des Alltags und arbeiten an der Welt statt an ihrer Simulation.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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