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Die Experimente der Gegenwart (Süddeutsche Zeitung, 9.3.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
2 minuten gelesen

Die Experimente der Gegenwart

Bruce Sterling über den Spaß von Science-Fiction-Autoren auf Parties

Süddeutsche Zeitung, 9.3.2001

Als kaum jemand wusste, was das Internet ist, hat Bruce Sterling mit „Mirrorshades“ 1988 das Manifest der Cyberpunkbewegung veröffentlicht. In seinem aktuellen Roman „Heiliges Feuer“ beschreibt der Science-Fiction-Autor und Journalist die Welt am Ende des 21. Jahrhunderts: Mailand hat die Stadt Genf aufgekauft, Indonesien ist der reichste Staat der Erde, und Fernsehshows werden von kybernetisch hochgerüsteten Hunden moderiert.

SZ: Bald wird die Raumstation „Mir“ in der Atmosphäre verglühen. Die neue Station ISS soll wirtschaftlich viel versprechenden Experimenten dienen, nicht einer Besiedlung des Weltalls. Ist die Zukunft nicht mehr, was sie mal war?

Sterling: Nein. Aber das ist auch nicht schlimm. Im 20. Jahrhundert war die Zukunft entweder sehr steril oder sehr düster. Wir können also froh sein. Die ISS wird zwar nicht wirtschaftlich bedeutend sein, aber es ist ein Fortschritt, dass Staaten Raketen ins All und nicht mehr aufeinander richten.

SZ: Also gibt es noch Hoffnung für die Science Fiction?

Sterling: Natürlich. Science Fiction kann auf eine Art in die Zukunft blicken, die Wissenschaftler der Objektivität opfern. Für Wissenschaftler sind Autoren wie ich Clowns. Ich will nicht sagen, dass literarische Zukunfts-Experimente den wissenschaftlichen überlegen sind. Sie sind anders und machen vor allem Spaß. Wenn ich mich auf einer Cocktail-Party als Science-Fiction-Autor vorstelle, sind die Leute wirklich interessiert.

SZ: Wie erklären Sie denen Ihre Arbeit?

Sterling: Ich kenne 22 Definitionen von Science Fiction. Wissenschaft ist natürlich genauso schwer zu definieren wie Fiktion. Also verstehe ich mich als Künstler, der die Auswirkungen von Technologie auf die Gesellschaft thematisiert.

SZ: Das bedeutet auch, Zukunftsvisionen zu zerstören.

Sterling: Sicher. Die von mir initiierte Viridian-Mailingliste hat ja gezeigt, dass das Internet nicht ein demokratisches Ding per se ist. Es macht mir keinen Spaß, gemein zu sein und Leute zu desillusionieren. Aber mich faszinieren Paradoxien und Widersprüche. Die gibt es in allen historischen Epochen, Revolutionen und Philosophien. Als Künstler ist es ja meine Aufgabe, auf die übersehenen Dinge aufmerksam zu machen.

SZ: Kann Kunst dadurch die Wissenschaft beeinflussen?

Sterling: Wissenschaftler lesen Bücher und schauen Star Trek an wie jeder andere auch, sicher. Aber wer ihre Vorstellungen, Visionen und Phantasien beeinflussen will, gibt ihnen einfach Forschungsgelder.

SZ: Lange Zeit schien das Internet der Ort zu sein, wo Zukunft passiert. Doch auch dieser einst gänzlich unbegrenzte Raum hat heute seine Schranken. Wo wird Zukunft stattfinden?

Sterling: Das Internet war ein einmaliger Raum. Im Gegensatz zu anderen Technologien hat es keine materielle Substanz, besteht allein aus einem Haufen Nullen und Einsen. Deswegen erschien es Staaten lange Zeit nicht wichtig, hier Grenzen zu errichten. Das hat sich geändert. Aber ich sehe immer noch keine Technologie, die so frei und offen ist. Das Weltall scheidet als Ort der Zukunft aus. Da braucht es Investitionsmittel, die nur Supermächte haben. Über Biotechnologie als unregulierte Technik will ich gar nicht nachdenken, das ist zu beängstigend. Wir sind also wieder beim Netz. Diese Technologie hat sich ja immer schon mehr wie eine Kunstbewegung angefühlt als jede andere. Vielleicht ist das der beste Ort, um nach zukünftigen Innovationen Ausschau zu halten: die Kunst.

SZ: Jetzt aber noch eine konkrete Zukunftsvision:. Wird die Menschheit Englisch sprechen?

Sterling: Wenn alle Englisch sprechen würden, hieße es weder Englisch noch würde es so klingen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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