Die Freiheit nehm ich dir (Süddeutsche Zeitung, 1.3.2001)
Die Freiheit nehm ich dir
Süddeutsche Zeitung, 1.3.2001
Gesetzgeber, lest mehr Kafka! Mit diesem Zwischenergebnis sucht ein amerikanischer Juraprofessor auf bisher 70 Manuskriptseiten nach der angemessenen literarischen Metapher für die Bedrohung der Privatsphäre im Internet. Das wissenschaftliche Werk wird noch wachsen, aber schon jetzt ist klar: George Orwell hat ausgedient. War ja auch mal Zeit nach gut einem halben Jahrhundert. Der Kommunismus ist implodiert und der Staat hat nichts zu melden. Warum also sprechen wir noch von Big Brother?
Weil es so einfach ist. Wer neue Metaphern sucht, muss auch das zu Bezeichnende neu erfahren. Eine klar benannte Bedrohung jedoch ist kaum bedrohlich. Bei Kafkas „Proceß“ hingegen weiß man nicht so recht, wer der Große Bruder ist, was er weiß, woher er es weiß, warum er es wissen will. Nicht einmal, ob es ihn überhaupt gibt. Josef K. hat anders als Orwells Held keine Ahnung. K. ist ein Mann des 21. Jahrhunderts, in dem es kein Reich des Bösen mehr gibt und der große Bruder sich in unzählige Datenbanken aufgelöst hat. Persönliche Informationen sickern an vielen Stellen in eine unsichtbare Struktur. Sie werden uns nicht mehr entrissen: Wenn ein Internetbuchhändler aus den bisherigen Käufen eines Kunden sein Interessenprofil errechnet, fühlt sich der nicht überwacht. Wer per Kreditkarte zahlt ebensowenig. Viele Amerikaner aber haben sich gewundert, als sie plötzlich Post vom Verband der Waffenbesitzer bekamen. Grund: Wer Geländewagen fährt und Outdoormagazine liest, ist potentieller Waffenbesitzer. Das hat ein Direktmarketing-Unternehmen aus öffentlich zugänglichen oder gekauften Informationen errechnet.
Der Staat ist nicht mehr das Problem, eher die Lösung. Doch zu viel Hoffnungen sollte man sich auch nicht auf eine kafkalesende Legislative machen: Im US-Präsidentschaftswahlkampf zahlten die Republikaner 15 Millionen Dollar für eine Datenbank mit 165 Millionen Persönlichkeitsprofilen, um gezielter Wähler anzusprechen.