Die Inszenierung futuristischer Visionen (Tagesanzeiger, 22.4.2003)
Die Inszenierung futuristischer Visionen
Das US-Magazin «Wired» steht für die Neunzigerjahre wie vielleicht nur noch «Wallpaper». Jetzt wird es zehn Jahre alt.
Tagesanzeiger, 22.4.2003
Wireds Mission sei es, nach „der Seele unserer neuen Gesellschaft zu suchen“, schrieb der Gründer Louis Rossetto 1993 in sein erstes Editorial. Dafür blickt „Wired" derzeit erstaunlich gern zurück: Die aktuelle April-Ausgabe feiert auf 24 Seiten die eigene Geschichte und die des vergangenen Jahrzehnts, im Juli veröffentlicht der langjährige Redakteur Gary Wolf sein Geschichtsbuch: „Wired: A Romance" und bei Ebay.com bringt ein Exemplar der erstmals an Kiosken in den gesamten Vereinigten Staaten verkaufte Ausgabe vom 26. April 1993 gut 20 Dollar.
Doch diese Historisierung der Zukunft steht durchaus in der Tradition, mit der „Wired“ zum grossen Magazin der neunziger Jahre neben „Wallpaper“ wurde. Es ging „Wired“ weder um Zukunft im Sinne von Extrapolationen der Gegenwart, noch um das Denken eines radikal anderen Zustand jenseits der Gegenwart. „Wired“ und seine Visionen kennzeichnete hingegen der atemlose Gestus, durch und in dem die Magazin-Macher alle Ideen als gigantische, futuristisch scheinende Visionen inszenierten. Und auch wenn die letztlich nur in den Neonfarben im dem typografischen Chaos „Wireds" existierten, es war egal – so lange sie die Leser unterhielten. Das war der Massstab, nach dem Zukünfte funktionieren mussten.
Deshalb schrieb Michael Crichton in der September-Ausgabe 1993, in zehn Jahren gäbe es keine Massenmedien mehr. Das war kühn wirkender und gut zu lesender Quatsch – immerhin verkaufte sich „Wired“ da 90000 Exemplare nach nur vier Ausgaben.
Die Idee für diesen Erfolg kam den Gründern Louis Rossetto und Jane Metcalfe in Europa, das Geld zur Umsetzung bekamen sie an der US-Westküste. In Amsterdam hatten Rossetto und Metcalfe in den Achtzigern im Magazin „Language Technology" über Minitel, Desktop-Publishing und Hypertext geschrieben und schreiben lassen. Als es 1989 bankrott war, gingen sie nach San Francisco, um ein Magazin für die digitale Generation zu schaffen. Das Geld hatten sie 1992 dank privater Investoren wie dem Direktor des MIT Media Labs Nicholas Negroponte zusammen. Rossetto beschrieb die Lücke für „Wired" in der ersten Ausgabe: „Die Computerpresse ist zu beschäftigt, die neusten Varianten der Verkaufsformeln und des Teillagers der PCInfoComputerGeschäftswelt zu diskutieren, um die Bedeutung oder den Kontext eines sozialen Wandels zu diskutieren, der so tief geht, dass die einzige Parallele wohl die Entdeckung des Feuers ist.“
Doch für sozialen Wandel interessierte „Wired“ sich kaum. Was Marcuse die „utopische Imagination“ nannte, fehlte dem Magazin der Zukunft. Denn „Wired“ lebte den Jahrzehnte alten, stilsicheren Optimismus der US-Westküste und es lebte von ihm: Freiheit des Individuums verstanden auch als radikaler Wirtschaftsliberalismus und das Fetisch technischer Innovation sind die zwei Pfeiler dieser Denktradition. In der Zukunft liefen also besser gekleidete Hippies, bestückt mit den neusten Gadgets herum. Sprich: Menschen, die in weiten, beigen Baumwollhosen vom Boot in der Wildnis aus mit Satellitentelefon und Powerbook einen Weltkonzern leiten.
Kritiker haben „Wired“ schon sehr früh eine undifferenzierte, ja unmenschliche Begeisterung für die Schnittmenge von unternehmerischem Biss, Hightech und Hippietum vorgeworfen. Sicher wirkte es zynisch, als John Perry Barlow sich Ende 1997 für „Wired“ mit einem Powerbook nach Afrika aufmachte, umherreiste, im Netz surfte und dann die Zukunft des Kontinents greifbar sah.
Doch „Wired" war niemals taub gegenüber der Kritik an der neuen Gesellschaft. Die Kritik musste nur sexy genug sein. Bevor der Autor Douglas Coupland 1995 seinen Roman „Microserfs" veröffentlichte, erschien das erste Fragment im Januar 1994 als Erzählung in „Wired". Coupland schrieb über die Sklaven der Informationstechnologie, deren Privatleben nicht existiert, sondern als Untermenge der Arbeit in der Firma stattfindet.
Diese Höhepunkte und seinen Zenit hatte „Wired" vor dem Boom der New Economy erreicht. Als die Fiktionen der „Wired"-Macher auf einmal Geschäftsgrundlage von Unternehmen wurden und Analysten begeisterten, nahm das Magazin schon die später folgende Krise vorweg. Zwei Börsengänge scheiterten 1996. Nach fünf Verlustjahren kaufte 1998 Condé Nast das Magazin für 80 Millionen Dollar.
„Wired" hatte auch nach Ende der „New Economy" noch grosse Momente. Bill Joys Essay „Warum die Zukunft uns nicht braucht" erschien hier, bevor er um die Welt ging. Doch heute, unter dem Mitte 2001 nominierten Chefredakteur Chris Anderson – früher Reporter des „Economist" – ist „Wired" seriöser geworden. Bei den Visionen zählen ökonomische Fakten, nicht allein die reizvolle Inszenierung.
„Wired" folgt immer seltener dem eigenen Rezept. Zum Jubiläum zeigte das Magazin das Leben im Jahr 2013 – natürlich vor allem in Form der dann zu kaufenden Gadgets. Zum Beispiel einer Armbanduhr, mit der man telefonieren kann und die einem heutigen iPod verdammt ähnlich sieht. Es gibt wesentlich schlimmeres als fetischisierte High-Tech-Produkte – langweilige.