Die künstliche Intelligenz sind wir (Der Standard, 5./6.5.2001)
Die künstliche Intelligenz sind wir
Steven Spielbergs jüngstes Werk "A. I." setzt schon im Vorfeld neue Maßstäbe
Der Standard, 5./6.5.2001
Um das Bildverständnis Amerikas steht es besser, als Kulturpessimisten oft meinen. Nicht jeder bleibt vor Bildern stehen und glaubt Wirklichkeit zu sehen. Es gibt Leute, die gehen in und hinter die Bilder, weil sie wissen, dass nur dort Wirklichkeiten zu finden sind.
Sie betrachten etwa im Gegenlicht die Rückseite des Filmplakats zu Steven Spielbergs für Ende Juni angekündigten Film A. I. – Artificial Intelligence und entdecken silberne Kreise und goldene Rechtecke, die gewisse Buchstaben einrahmen. Sie lesen quasi das Bild: "Evan Chan was murdered"; "Jeanine was the key". Und diese Sätze sind nur ein Startpunkt der Marketingkampagne für das von Stanley Kubrick begonnene und von Spielberg nun fertig gestellte SciFi-Projekt.
Ein anderer findet sich in dem im Netz verfügbaren Trailer. Da wird in den Credits zwischen der Kostümdesignerin und dem Komponisten eine Jeanine Salla als "sentient machine therapist" aufgeführt. Eine Robotertherapeutin in einem Film des frühen 21. Jahrhunderts? Jemand mit dem Namen Jeanine Salla hat bisher an keinem Film mitgewirkt, in Nachschlagewerken existiert der Name nicht. Etwas Fremdes ragt hier beunruhigend in die Bilder hinein wie die Signatur "lcf" in die Buchillustrationen in Roman Polanskis Neun Pforten.
Um eine Bedeutung zu finden, hätte man vor langer Zeit Vögelbäuche aufgeschnitten. Oder man hätte an mythisch aufgeladenen Orten wie Bibliotheken gesucht, wie Filmhelden – Spielbergs Indiana Jones etwa – es taten. Ein solcher Ort ist heute das Internet. Wer "Jeanine Salla" in eine Suchmaschine eintippt – und das tun bereits Tausende User – trifft zunächst auf zwei mysteriöse Netzseiten. Die der "Bangalore World University" und die der Familie Chan.
Zur Universität gehört eine Abteilung für künstliche Intelligenz, von dort kann man zu Sallas privaten Seiten gelangen. Unter ihrer dort geführten Telefonnummer ist nur eine Ansage zu hören – über das Begräbnis von Evan Chan. Wer jetzt weiterforscht, wird mit immer schwierigeren Rätseln konfrontiert. Da müssen versteckte Verweise im Quelltext von Dateien entdeckt, Fotografien vergrößert und Identitätskennungen aus ihnen herausgelesen werden.
So bekommt der Spieler ein Gefühl für die Erde des Jahres 2142: Weit entwickelte Roboter werden als Freundes- und Kinderersatz verkauft, militante Gruppen kämpfen für bzw. gegen die Rechte von Robotern. Polizeieinheiten suchen nach flüchtigen Maschinen. Denn manche Roboter wehren sich: Spieler, die ihre Telefonnummer auf der Seite der Anti-Roboter-Bewegung "Unite-and-Resist" angaben, wurden am 13. April angerufen. Eine metallische Stimme sagte: "Wir beobachten dich. Einen schönen Tag."
Der Mord an Chan ist noch nicht aufgeklärt. Ständig tauchen neue Spuren auf. Etwa 50 Seiten gibt es schon – von denkendeneshaus-de.dk bis catskillseaviewclinic.org. Das eigentliche Geheimnis jedoch ist, was Chan und Salla außer der Zeit, in der sie leben, mit Spielbergs Film zu tun haben. Ein Hinweis findet sich hinter den Bildern:
Die meisten der Internetseiten wurden von einer Bianca Ghaepetto bei Network Solutions registriert. Gepetto heißt der Schreiner, der Pinocchio schuf und nachher mit seiner Schöpfung zu kämpfen hatte.
Es geht hier nicht so sehr um künstliche Intelligenz als vielmehr um die Beziehung der Menschen zu ihr: Kubricks Drehbuchfassung basierte auf der Kurzgeschichte Super-Toys Last All Summer Long, die der Science-Fiction-Autor Brian Aldiss 1969 im Magazin Harper's Bazar veröffentlichte. Es geht darin um die Einsamkeit der Menschen in einer überbevölkerten Zukunft und ihre Sehnsucht, diese mithilfe der Technologie zu überwinden. Aldiss erzählt von der Beziehung einer Mutter zu ihrem Roboterkind, das die tote Tochter ersetzen soll. Es ist kein Zufall, dass Aldiss' Geschichte kürzlich in Wired, dem US-Magazin der libertären Technologieelite, nachgedruckt wurde.
Die Marketingkampagne zu A. I. will uns etwas über unser Verhältnis zur Technologie vor Augen führen, das der Autor von 2001, Arthur C. Clarke, einmal so beschrieb: "Jede ausreichend weiterentwickelte Technologie ist nicht zu unterscheiden von Magie."
Zu sehen war das schon im Film Blair Witch Project, der wie A. I. stark das Internet für seine Kampagne nutzte. Sie begann mit zwei Sätzen: "Im Oktober 1994 verschwanden drei Filmstudenten im Wald nahe Burkittsville, Maryland, während sie einen Dokumentarfilm drehten. Ein Jahr später fand man ihr Filmmaterial." Der Wald, jener Ort, in dem man Vögel aufschnitt, bevor es Bibliotheken gab, hatte die Bilder ausgespuckt.
Technik ist oft nicht in der Ratio begründet, sondern im Mythos. Das Internet ermöglicht die bisher konkreteste Manifestation des Un- und Halbbewussten. Ohne das Netz wären Verschwörungstheorien nie so sichtbar geworden, wie sie es heute sind, Elaine Showalter hätte ihr Buch Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien nie geschrieben. Trash und Erkenntnis liegen in unmittelbarer Nachbarschaft.
Das ist das Thema, welches A. I. mit seiner Werbekampagne verbindet. Ein Journalist erzählte von einer Szene aus den ersten fünf Minuten des Films, die am 1. Mai im Bostoner M.I.T. zu sehen waren, Folgendes: Ein Dozent erzählt da seinen Studenten von der Entwicklung eines fühlenden Roboters. Er befiehlt einer Studentin, den Mund zu öffnen. Sie folgt ohne Zögern, denn sie ist ein Roboter.
Der Dozent drückt einen Knopf, ihr Gesicht gleitet zur Seite, er holt einen kleinen Würfel aus ihrem Kopf. Die Studenten blicken auf das Gehirn und fragen: Wenn ein Roboter einen Menschen wirklich lieben könnte, was hätte der Mensch dann für eine Verantwortung gegenüber seiner Schöpfung? Worauf wir auch schauen, wir werden und müssen letztlich uns selbst erblicken.