Die liberale Papierschwalbe (De-Bug, Dezember 2000)
Die liberale Papierschwalbe
Zwischen Zerstörung, Blut und verstümmelten Körpern versteckt Takeshi Kitano in „Brother“ eine kleine Werterevolution.
De-Bug, Dezember 2000
Es fällt leicht, Takeshi Kitano als Nihilisten zu sehen. Selbst im lichtesten, ungrausamsten Film des Japaners – „Kikujiros Sommer“ von 1998 – ist der Verfall unübersehbar. Der Film erzählt die Suche eines kleinen Jungen nach seiner Mutter. Zusammen mit dem tollpatschigen Nichtsnutz Kikujiro, der eigentlich auf ihn achten soll, reist der kleine Masao durch ein sommerliches Japan. Eigentlich gehören zu diesem japanischen Genre „matatabi-mono“ der Road- oder besser Wandermovies wunderschöne Landschaftsaufnahmen. Doch Kikujiro irrt mit seinem Schützling durch ein Land voller zugemüllter Pfuhle und verfallener Haltestellen. An den wenigen heilen Rasenflächen verbieten Schilder großformatig das Betreten.
Man kann es sich einfach machen und bilanzieren: Es gibt keine Werte mehr, außer der Gewalt, die Kitano in seinen Filmen über die japanische Mafia – die Yakuza – zelebriert.
Kitanos neuen Film „Brother“ man noch viel leichter als so ein existentialistisch-düsteres Etwas labeln. Der japanische Regisseur ist nach den helleren „Hana-Bi“ und „Kikujiros Sommer“ zur Yakuza-Genre zurückgekehrt – mit erbitterterer Unbarmherzigkeit als zuvor: Den Aufstieg des aus Japan verstoßenen Yakuza Yamamoto in der Unterwelt Los Angeles säumen abgeschnittene Finger, aufgeschlitzte Bäuche, heraushängende Gedärme und viel Blut. Nicht die Gewalt erschüttert, sondern die lakonische Beiläufigkeit mit der sie plötzlich ausbricht und ebenso unvermittelt wieder aufhört. Sie wird nicht verherrlicht, sie geschieht. Kalt und hoffnungslos scheint „Brother“: Yamamoto sieht das Leben ebenso teilnahmslos auf sich herumtrampeln wie er es auf Opfern tut.
Spätestens nach „Brother“ müsste man den Vorwurf der Gewaltzelebrierung gegen Kitano streichen. Allerdings begünstigt „Brother“ ein neues Fehlurteil über Kitano: Ist er nicht recht konservativ, ja eigentlich reaktionär? Die Welt in seinen Filmen ist ein stinkender Sündenpfuhl voller Gewalt, Sex und Drogen. Nach der Lesart ist es nur folgerichtig, dass „Brother“ eine Art Rachefeldzug eines japanischen Yakuza in den USA erzählt: Von hier aus haben Liberalismus und Kapitalismus Japan erobert.
Sicher liebt Kitano das Japan der hyperkapitalistischen Gegenwart nicht. „Auf der Jagd nach Erfolg haben sich die Japaner allein für das Geld entschieden. Eine gewisse Hoffnung habe ich allerdings noch: Derzeit verschlechtert sich in Japan die Konjunktur rapide“, sagte er vor zwei Jahren.
Zur Praxis japanischer Schülerinnen, ihre gebrauchte Unterwäsche zu verkaufen, meinte Kitano: „Die Mädchen wissen eben, dass sie schnell alles verkaufen müssen. Wenn sie älter werden, nimmt ihnen niemand mehr etwas ab.“ Der Mensch ist total der Verwertung unterworfen.
Kitanos Filme urteilen ebenso hart über die japanische Gegenwart des Kapitalismus. In „Hana-Bi“ wird ein Polizist von Frau und Kind verlassen, als ihn ein Yakuza querschnittsgelähmt und berufsunfähig schießt. Und in „Brother“ muss Yamamoto Japan verlassen, weil seine Yakuza- Familie sich einer anderen, größeren anschließt. Gerade weil Yamamoto loyal und erbittert gegen diese kämpfte, als sie noch Feinde waren, wird er verstoßen. Dem Tod entgeht er allein durch die Loyalität eines Mitarbeiters.
Solche Opfer gibt es heute bei jeder Fusion von Großkonzernen. Warum nicht auch in der Yakuza. Aber so selbstverständlich ist das nicht. Noch stärker als die Mafia wird das organisierte Verbrechen Japans durch Tradition zusammengehalten. Sorgfältig breitet „Brother“ die Symbolik bei der Zeremonie der Aufnahme der gegnerischen Familieangehörigen aus. Doch offenbar ist selbst die Yakuza als letzte Institution eines Moralkodex vom Hyperkapitalismus unterwandert. Nachdem kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Tenno – dem absoluten, göttlichen Herrscher Japans – die moralische Instanz für das sich als Kollektiv begreifende Volk verschwand, scheinen nun auch die letzten Traditionen verdorben.
Bisher konnte man diese Weltsicht Kitanos als japanspezifisch abtun. Nun ist „Brother“ aber eine japanisch-amerikanische Produktion. Die Unterwelt Los Angeles, in der Yamamoto sich hochkämpft, beschreibt die amerikanische Gesellschaft ähnlich präzise wie der Mikrokosmos Yakuza in Kitanos vorherigen Filmen die japanische. Es ist eine ernüchternde Analyse. Die Bewohner des liberalen Amerika sind alles andere als frei: Auf der Straße dealen die Afroamerikaner, sie führen Geld an Hispanics ab, die kleine Territorien kontrollieren. Darüber kommt die japanische Yakuza und alle müssen sie an die italienische Mafia abführen. Die soziale Ordnung des liberalen Musterstaates ist extrem hierarchisiert und undurchlässig. Das Mikrowirtschaftsystem der organisierten kann und soll man ruhig auf die gesamte Gesellschaft übertragen.
Wenn Yamamoto regungslos vor Hoffnungslosigkeit durch die Straßen dieser irdischen Hölle läuft, glaubt man, in Kitano den Reaktionär zu erkennen. Sieht man Yamamoto dann einem Kleinkriminellen, der sich einen seinen Weg stellt, eine abgebrochene Flasche ins Auge rammen, bestätigt sich der Verdacht des Nihilismus.
Aber Kitanos Lösung ist weder die Bekräftigung überkommener Werte, nach denen sich das Individuum der Gemeinschaft unterzuordnen hat, noch ist es die totale Zerstörung. In allen Filmen Kitanos gibt es Momente, in denen der undurchdringliche, beklemmende Struktur kurz aufreißt. Man tritt heraus aus der Hölle, hinein in ein Jenseits. In „Brother“ wirft Yamamoto eine Papierschwalbe vom Dach eines Hochhauses. Minutenlang beobachtet er ihren Flug, die Kamera zuckt dem vom Wind umhergewehten Flieger hinterher. Die Szene ist leicht, kindlich-beschwingt befreit und befreiend. In „Sonatine“ riss in der Mitte des Films die Kamera den Horizont der Yakuzas zum Weitwinkelblick auf einen Strand und den Horizont überm Meer auf. Hier müssen sie sich wegen eines Bandenkrieges verstecken. Sie spielen, tanzen, falten Papierfiguren, bauen Fallgruben. In „Brother“ lacht Yamamoto vor Freude wie ein Kind, als er mit einem einfachen Trick beim Hütchenspiel gewinnt.
Diese Augenblicke der Freiheit im kindlichen Spiel schweben irgendwo jenseits der Wirklichkeit. Sie erinnern an David Lynchs schwermütig-kitschige Momente in der Düsternis von „Blue Velvet“ oder „Lost Highway“: Die Idylle des abgezäunten Reihenhaus-Kleingartens in Suburbia, deren Unmöglichkeit auf Dauer in jeder Sekunde bewusst ist.
Kitano ist kein Reaktionär und auch kein Nihilist – er träumt von einem besseren Irgendwo. Dieses Träumen kann man nicht konservativ nennen, obwohl es Besserung allein durch das Klammern an Werte beschreibt. Denn Kitano bekräftigt keineswegs die alten japanischen Werte des Kollektivs. Vielmehr opfert sich am Ende von „Brother“ Yamamoto für einen anderen. Er tut dies aus dem Glauben an einen von ihm abgewandelten Yakuza- Kodex: Nicht dem Kollektiv als Abstraktum, sondern seinen Mitbrüdern als Individuen ist er verpflichtet. Bis in den Tod.