Die Matrix der Tabellenkalkulation (Neue Züricher Zeitung, 6.6.2003)
Die Matrix der Tabellenkalkulation
Das Computerspiel «Enter the Matrix»
Neue Züricher Zeitung, 6.6.2003
Das Computerspiel «Enter the Matrix» ist ein Meilenstein. Keine Rezension lobt das Spiel uneingeschränkt, einige bezeichnen es schlicht als Müll, und die meisten erkennen in einem unfertigen Ganzen nur gerade wertvolle Ansätze. Trotzdem haben eine Million Menschen in Europa und Nordamerika binnen sieben Tagen «Enter the Matrix» gekauft. Der Titel ist ein Meilenstein – was die Vermarktung betrifft.
Der Spieleverlag Atari will mit «Enter the Matrix» offenbar das Konzept des Blockbusters aus dem Filmgeschäft adaptieren: Ein aufwendig für den Massengeschmack produzierter Titel lockt so viele Kunden an, dass der Gewinn im Verhältnis gesehen grösser ist als bei mehreren kleinen Titeln. 4 Millionen Exemplare von «Enter the Matrix» will Atari weltweit verkaufen und damit einen Umsatz von 160 Millionen Dollar erwirtschaften. Zum Vergleich: Nintendos lang erwarteter und viel gelobter Titel «Zelda: The Wind Waker» startete mit einer internationalen Auflage von 1,1 Millionen Exemplaren.
Um das vierfache Volumen zu verkaufen, setzte Atari von Anfang an auf die Popularität der Marke «Matrix» und auf eine geschickte Vermarktung, die Spiel und Film im Bewusstsein der Käufer zu einer Einheit bündelt. Inhaltlich schlug sich das im Spiel so nieder: Die Autoren und Regisseure des Films Larry und Andy Wachowski schrieben ein 244-seitiges Drehbuch für das Spiel und filmten bei den Dreharbeiten zu den Kinofortsetzungen auch etwa eine Stunde Material exklusiv für das Spiel. Die Protagonisten des Spiels sind im Film eher Randfiguren. Dennoch wirkt die Handlung des Spiels nicht als billiger Abklatsch. Im Gegenteil: Sie ergänzt die im Film dargestellten Ereignisse – und umgekehrt. Bei diesen narrativen Zwischensequenzen, in denen der Spieler nichts anderes tut, als zuzusehen, brilliert das Spiel. So soll es auch sein, kommentiert David Perry, Vorsitzender des Herstellers Shiny Entertainment: «Es ist für die Fans des Films gemacht. Für die beste Erfahrung muss man ihn gesehen haben.»
Vom Film hat sich Atari auch bei der Geschäftsstrategie inspirieren lassen: Die Menge neuer Titel sinkt: 2001 präsentierte Atari auf der Fachmesse E3 80 Titel, voriges Jahr 65, in diesem Jahr nur noch 30. Zugleich wachsen bei den verbliebenen Titeln die jeweiligen Budgets für Lizenzen, Vermarktung und Entwicklung. Atari hat ein Produktionsbudget von 20 Millionen Dollar für «Enter the Matrix» bestätigt. Atari hat zudem 50 Millionen Dollar für die Übernahme des Entwicklers Shiny Entertainment bezahlt. Hinzu kommen 10 Millionen Dollar für die Vermarktung. Die Lizenz kostete etwa 5,5 Millionen Dollar Festzahlungen und knapp ein Viertel des Umsatzes als Tantièmen ab 2,5 Millionen verkauften Exemplaren. Zum Vergleich: Die Entwicklung eines durchschnittlichen Titels kostete laut dem Investmenthaus Wedbush Morgan Securities im vergangenen Jahr 2,5 bis 4 Millionen Dollar.
Die enormen Kosten rechtfertigt aus Sicht Ataris ein relativ sicherer Absatz des Spiels durch die Bekanntheit des Films. Electronic Arts verkaufte seit vergangenem November weltweit gut 3 Millionen Exemplare des Spiels «Two Towers» zum zweiten «Herr der Ringe»-Film. Activision konnte vom Videospiel «Spiderman» bisher 2,5 Millionen Exemplare absetzen. Das erfolgreichste Spiel mit Filmlizenz ist allerdings der 1995 für die Nintendo-Konsole «N 64» erschienene Titel «Goldeneye» mit 5 Millionen verkauften Exemplaren.
Solche Zahlen sind der Traum jedes Managers in einem Spielverlag. Denn anders als Filmstudios könnten sie bei Flops kein zusätzliches Geld mit dem Verkauf von Fernseh-, Video- oder DVD-Rechten verdienen. Das Zeitfenster, um die nötigen Einnahmen zu erzielen, ist klein: Gemäss Schätzungen werden ungefähr 80 Prozent des Umsatzes mit einem Titel in den ersten sechs Monaten erwirtschaftet. Denn danach sind schon rein technisch überlegene neue Spiele am Markt.
Ob die Lösung aber mit Filmlizenzen ausgestattete Blockbusterspiele sind, wird sich noch zeigen müssen. Atari muss noch 3 Millionen Exemplare verkaufen, um in die Gewinnzone zu kommen. Zudem fürchten viele Kritiker, dass solche Geschäfte langfristig dem kreativen Potenzial der Spielbranche schaden. Douglas Lowenstein, Vorsitzender des Dachverbandes der amerikanischen Computerspieleindustrie, sagte: «Wir haben uns jetzt als respektabler Teil der Unterhaltungsindustrie etabliert. Es ist doch eine Ironie, wenn wir uns nun von Hollywood abhängig machen.»