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Die programmierte Welt (Frankfurter Rundschau , 18.10.2001)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Die programmierte Welt

Sehr frei nach Newton: Wie aktuelle Computerspiele ihre eigene Physik erschaffen

Frankfurter Rundschau , 18.10.2001

Mit Naturgesetzen Geld verdienen. Das klingt wie eine jener abgedrehten Geschäftsideen der inzwischen recht alten New Economy. Aber es ist eine erfolgreiche. Zwei junge Unternehmen, "MathEngine" aus Großbritannien und "Havok" aus Irland, verkaufen heute Programme, die in Computerspielen den Gesetzen der Newtonschen Physik Gültigkeit verleihen. Zahlreiche Spielehersteller verwenden solche Software in neuen Projekten – zu einem Preis von umgerechnet 100000 bis 150000 Mark je Spiel. Denn es ist von ungeheurer Bedeutung für ein Spiel, dass zum Beispiel eine Kiste darin nach ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten gen Boden fällt und aufprallt.

Eine eigene Physik war immer schon ein wichtiges Element des Computerspiels. Bei einem der ersten überhaupt, dem im Februar 1962 am amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) programmierten Spacewar!, ist das sehr deutlich zu erkennen: Zwei Raumschiffe mit begrenztem Treibstoffvorrat kämpfen gegeneinander. Die Spieler können bei ihren Manövern die Anziehungskraft eines zentralen Planeten ausnutzen, um Geschwindigkeit zu erlangen. Der Programmierer Stephen Russell beschrieb diese Instrumentalisierung der Spielwelt einmal so: "Indem wir eine Welt wählten, welche die Leute nicht kennen, konnten wir zahlreiche Parameter ändern, um eine gutes Spiel zu ermöglichen." Die Welt von Spacewar! ist keine Spiegelung einer realen. Sie ist eine Fiktion, deren Eigengesetzlichkeit die Spieler erkennen und ausnutzen müssen.

Der Raum jedes Spiels ist strikt begrenzt und von der Welt deutlich getrennt. Der Philosoph Johan Huizinga beschrieb in Homo Ludens die Entwicklung solcher Räume entlang der Stichworte: "Die Arena, der Spieltisch, der magische Zirkel, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, das Tribunal". Und der Computer, mag man hinzufügen.

Ein Jahrzehnt nach Spacewar! wurde der Videospielautomat Pong des jungen Unternehmens Atari in den Vereinigten Staaten sehr beliebt. Pong ist auf den ersten Blick nicht viel mehr als Tischtennis am Bildschirm, schon beim ersten Spiel jedoch wird klar, wie viel mehr Pong tatsächlich ist: Ein kleiner Physikentwurf. Der Ball prallt nicht einfach in die Richtung zurück, aus der er kommt. Vielmehr ist der Schläger in acht Segmente unterteilt. Von den beiden mittleren, wird der Ball im Winkel von 180 Grad zurückgestoßen, je weiter außen am Schläger er auftrifft, desto kleiner wird der Winkel. Das führt dazu, dass eine geschickte Schlägerbewegung den Ball auf eine ebenso gesetzmäßige wie überraschende Bahn schickt. Zudem wird der Ball im Spielverlauf immer schneller, um die Spannung zu steigern. Die Physik von Pong impliziert zwei Grundsätze: Die Welt ist geschaffen, um jedem Menschen ein Maximum an Freude zu ermöglichen. Und: Um diesen Zustand zu erreichen, sind selbst grundlegende physikalische Gesetze veränderbar.

Die Technologien, wie sie MathEngine oder Havoc entwickelt haben, ermöglichen den heutigen Spielen eine weit komplexere Physik als Pong oder Spacewar! sie hatten. Komplex bedeutet hierbei, dass alle Elemente einigen wenigen Gesetzen folgen, dabei jedoch jede Zustandsänderung Ausgangspunkt der nächsten wird. So entsteht aus kleinen Rechenschritten nicht vollkommen prognostizierbare Komplexität.

Ansatzweise gelang dies schon in dem 1996 erschienenen Klassiker Quake. Mit ein wenig Übung gelang es Spielern hier, aus dem Stand in die Luft zu springen und im selben Moment eine kleine Rakete am Boden zur Explosion zu bringen. Die Druckwelle trug den Spieler dann größtenteils unbeschadet in die Höhe, so dass er zahlreiche Hindernisse einfach überspringen konnte und manchmal vom Anfang fast direkt bis zum Ende eines Spielabschnitts gelangte. Ob die Entwickler das vorhergesehen hatten?

Heute testen Spielehersteller sogenannte "Physics Engines" mit aberwitzigen Methoden: Was geschieht, wenn ein kleiner und ein großer Würfel in eine Spalte mit aufeinander zulaufenden Wänden fallen? Wie verhält sich ein fünf Kilo schwerer Würfel, wenn er auf einen 5000 Kilo schweren prallt?

Aber es ist nicht so, dass hier der Realität Konkurrenz gemacht werden soll. Zumindest nicht im Sinne einer Kopie. Denn auch die modernste Software beherzigt den alten Grundsatz Huinzingas über die Eigengesetzlichkeit des Spiels: "In der Sphäre des Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung." Denn würden alle Gesetze gelten, wäre das Spiel kein Spiel. Es lebt von seiner Geschlossenheit. Über die Umwege Augen und Hände wird der Spieler mit der Spielwelt verbunden, die wenig Raum für störende Einflüsse lässt. Sehr schön ist das beim Rennspiel Top Gear Dare Devil zu sehen: Wie gewöhnlich bei Rennspielen rast man mit schnellen Autos umher. Hier durch San Francisco, Tokio, Rom oder London. Dabei ist es allerdings beinahe unmöglich, ein Auto zum Umkippen zu bringen. Was wäre das für ein Rennspiel, wo man sich in scharfen Kurven ständig überschlüge?

Beim jetzt erschienenen Spiel Max Payne – einer Art "jeu noir" – ist die größte spielerische Innovation die Steuerung der Zeit durch den Spieler. Mit einem Tastendruck kann man den Zeitfluss verlangsamen. Pistolenkugeln werden sichtbar, Menschen bewegen sich wie Taucher – ähnlich wie im Film Matrix sieht das aus. Man kann Kugeln ausweichen und mit einem Sprung fast parallel zum Boden fliegen.

Spiele sind nicht so sehr Simulationen im strengen Wortsinn als vielmehr Theorieentwürfe mit einer Benutzerschnittstelle. Wenn man zu Beispiel im Klassiker Sim City eine Polizeistation in einem Stadtviertel baut, sinkt dort die Kriminalitätsrate. Sim City besteht aus vielen solcher kleinen Regeln, es ist ein Axiom über Stadtplanung, ebenso wie Max Payne im Prinzip ein physikalischer Theorieentwurf ist. Die so konstruierte geschlossene Spielwelt macht das Wesen eines Spiels aus. Deshalb sind auch die meisten Versuche gescheitert, Computerspiele als Literatur oder Film zu begreifen. Spielen und Erzählen widersprechen sich insofern, als das sie schlicht nicht gleichzeitig möglich sind. Wenn Spiele erzählen, werden sie nicht gespielt – bei den Filmsequenzen in Max Payne ist dies zum Beispiel der Fall. Es gibt Näherungslösungen, bei denen sich Spiel und Erzählung ergänzen, aber auch hier ist das Spiel nie nur Erzählung. Spiele wie Max Payne sind also weder narrative Fiktion noch Simulation einer wie auch immer gefassten Realität. Sie machen der Welt außerhalb keine Konkurrenz – sie ignorieren sie und behaupten fröhlich ihre Verzichtbarkeit.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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