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Die Rechenkraft ist da draußen (telepolis, 20.08.2000 )

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Die Rechenkraft ist da draußen

Seit einigen Jahren arbeiten nicht-kommerzielle Gruppen im Netz am Projekt „verteiltes Rechnen“. Nach dem Erfolg von SETI@home versuchen sich zahlreiche Firmen an der Kommerzialisierung.

telepolis, 20.08.2000 

 

Für die vage Hoffnung, einst im Schaukelstuhl den Enkeln erzählen zu können, wie man mithalf, außerirdische Intelligenz zu entdecken schenken Millionen Menschen übers Internet etwas Rechenzeit dem Projekt SETI@home. Bei der nächsten – kommerziellen – Generation des “verteilten Rechnens” werden die Erfolgserlebnisse konkreter sein: Toy Story 3, ein Grippemittel und als Entlohnung die Erstattung der online- Gebühren oder Einkaufsgutscheine.

Die US-Firma Parabon verspricht, ab Herbst ihre momentan etwa 6000 freiwilligen Helfer für die geopferte Rechenzeit mit kleinen Geldbeträgen zu entlohnen. Beim Anfang des Monats gestarteten Erstversuch ist noch ein gutes Gewissen die Entlohnung. Mit dem US National Cancer Institute will man die Wirkung verschiedener Medikamente auf Krebszellen simulieren. Was sich bei der Computersimulation als erfolgreich erweist, wird dann an echten Patienten versucht. Die nötige Rechenkapazität stellen wie schon bei SETI@home die Heimcomputer der freiwilligen Helfer. Das von der Parabon-Homepage herunterzuladende Java-Programm Pioneer beginnt – wie ein Bildschirmschoner – zu arbeiten, wenn der Rechner nicht benutzt wird. Holt man sich einen Kaffee, wird ein kleiner Simulations-Teil berechnet – der vielleicht zu dem neuen Krebsmittel führt. Die Ergebnisse sendet Pioneer dann übers Netz an Parabol.

Geschäftführer Steven Armentrout ist sich recht sicher, das Geschäft der Zukunft aufzubauen: „IBMs ASCI White, der schnellste Rechner der Welt, hat die Kapazität von etwa 30000 Desktop-Computern. Allein in den USA sind 100 Millionen Computer am Netz.“ In der Tat haben es in den ersten 15 Monaten des SETI@home Projekts etwa zwei Millionen Rechner auf 345000 Rechenjahre gebracht. Abgesehen von diesem Potential wird kaum jemand Unsummen für Rechenkraft ausgeben, die er nicht konstant sondern nur für ein zeitlich begrenztes Projekt braucht. Disney konnte sich das bei Toy Story leisten, viele Forschungsprojekte haben weniger finanziellen Spielraum. „Die Rechenkraft ist da draußen“, glaubt Armentrout. Man muss sie nur mieten.

Dass verteiltes Rechnen funktioniert, haben neben SETI@home bereits einige andere nicht-kommerzielle Projekte bewiesen. Distributed.net, ein loser Zusammenschluss von Mathematikern und Programmierern, hat schon 1997 die von RSA Security aufs Knacken ihres Verschlüsselungscodes ausgesetzten 10000 Dollar Preisgeld gewonnen – indem sie die Arbeit auf einige tausend Rechner aufteilten. Heute vergleicht das Computermagazin Wired die Rechenkraft von Distributed.net mit der von 180000 rund um die Uhr laufenden Pentium II 266-MHz Maschinen.

Auch Myles Allan vom britischen Rutherford Appleton Laboratory glaubte bei einer geplanten Klimasimulation auf die Kraft des „verteilten Rechnens“. Auf seine Anfrage im vergangenen Herbst erhielt er binnen zwei Wochen 15000 Antworten. Ähnliche Unterstützung erhofft sich openCOLA, ein open-source Softwareprojekt zum finden und indizieren und von Audio- und Videodateien im Internet.

Die Begeisterung für verteiltes Rechnens erfasst wohl Adam Bebergs Manifest am besten. Der Gründer von distributed.net arbeitet derzeit an Cosm, einer „Reihe von Protokollen, die es Rechnern ermöglichen an gemeinsamen Projekten zu arbeiten. Das mag eine mathematische Herausforderung oder das Rendering einer Animation sein, kurz gesagt jedes große Projekt, dass in Teile zerlegt und verschiedenen Rechnern zugewiesen werden kann“, wie er es beschreibt. Seine Aufruf: „Zwei und zwei ist nicht mehr vier, es ist fünf. So viele Dinge müssen getan werden, genug um jeden Computer auf ewig zu beschäftigen. Irgendwo hat jemand Arbeit zu erledigen und du kannst helfen.”

An der Kommerzialisierung dieses Potentials versuchen sich neben Parabon auch andere Start-Ups. Popular Power zum Beispiel will so etwas wie eine Rechenkraftbörse werden. Je mehr Rechenkraft man zur Verfügung stellt, desto lukrativer sollen die Aufträge werden. Bezahlen will Popular Power vor allem in Form von Preisnachlässen auf Internetgebühren und Gutscheinen für online-Geschäfte. Noch läuft eine nicht-kommerzielle Testphase, bei der die Wirkung neuer Impfstoffe auf neue Grippeviren simuliert wird. Geschäftsführer Mark Hedlund – er hat die Internetabteilung bei Lucasfilm aufgebaut – sieht Kunden vor allem im Film-, Animations-, Biotechnologie- und Chemiebereich. Und natürlich bei Webindizes „Ich bin überzeugt, dass ein Markt da ist“, erzählte er Wired.

Ein etwas anders Geschäftsmodell verfolgt der Konkurrent ProcessTree. Auch hier läuft momentan die Betaphase, aber Gründern Jim Albea erzählte Wired, dass einige Firmen aus der Forbes 500 Liga Interesse hätten. Stellt man ihnen über ProcessTree Rechenkapazität zur Verfügung, wird man mit Einkaufsgutscheinen, Preisrabatten beim Internetprovider und auch Bargeld entlohnt. Das besondere an dem Modell ist, dass man desto mehr verdient, je mehr Leute man anwirbt. Zum eigenen Lohn kommt dann ein Teil ihres Umsatzes, ein Teil des Umsatzes der von ihnen angeworbnen usw.. Von über 110100 verfügbaren Computern spricht ProcessTree momentan. „Jeden Tag kommen 300 neue Leute und 500 Computer dazu“, erzählt Albea.

Es gibt auch Skeptiker. Bob Mecalfe zum Beispiel. Der Gründer von 3Com nennt verteiltes Rechnen zwar seine „Lieblingsidee“, glaubt aber nicht an die Kommerzialisierbarkeit: „Die Transportkosten für Daten, Programme und Ergebnisse übertreffen bei den meisten solcher Unternehmen die Vorteile. Leute mit wirklich ernsten Aufgaben werden nicht Ergebnissen von unzuverlässigen Maschinen, die bei absolut Fremden stehen vertrauen. Außerdem sinkt der Preis für Rechenkraft beständig.“

Mark Hedlund von Popular Power hingegen verweist auf den Erfolg von SETI@home: „Geschwindigkeit und Verfügbarkeit des Netzes sind endlich soweit, dass nicht-triviale Arbeit zu machen ist“. Vielleicht wird funktionieren: Die mehr oder weniger wichtigen Fragen der Menschheit beantworten, die nächste Toy Story produzieren und dafür Amazon- Gutscheine bekommen – während man Kaffee holt.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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