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Die Welt darf zuhören (Berliner Zeitung, 21.11.2000)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
3 minuten gelesen

Die Welt darf zuhören

Live im Internet: Im Wohnzimmer eines Münchner Ehepaar legen DJs auf.

Berliner Zeitung, 21.11.2000

Kinder Country, Red Bull und Chips. Claus und Dani Wahlers Wohnzimmer bietet alle Utensilien für einen netten Abend auf dem Sofa. Schließlich ist es später Sonntag, kurz nach dem "Tatort". Allerdings steht auf dem Parkettboden der Schwabinger Wohnung der Wahlers neben Sportschuhen und weichen Ledersesseln aus einem vergangenen Zeitalter der Gemütlichkeit auch ein DJ-Pult. Sonntags, wenn in München kaum Partys stattfinden, lassen Wahlers DJs wie Miss Kittin oder DJ Hell in ihrem Wohnzimmer auflegen. Die Welt darf zuhören – übers Internet.

Die Wohnungsklingel haben Wahlers abgestellt – seit roemerstr31.com in der "Bild"-Zeitung auftauchte, kommen schon mal unbekannte Besucher. Die sind nicht unbedingt erwünscht. Familiäre Atmosphäre ist ein wesentlicher Teil des Wohnzimmer-DJtums. Eigentlich sollten es bekannte Plattendreher wie DJ Hell nicht nötig haben, vor gerade mal zehn Leuten aufzutreten – denkt man. Aber seit April machen sie das jeden Sonntagabend drei oder vier Stunden lang.

Heute legt Cynthia Stern auf. Cynthias Künstlername lässt eine Frau vermuten, doch am DJ-Deck steht ein feingliedriger, hagerer Mittzwanziger. In Kopenhagen ist er mit seinem Label Input Output bekannt, Claus Wahlers hat er im Netz kennen gelernt. Auf Musik kamen sie ins Chatten, nun ist er für eine Woche in München zu Besuch.

Während er auflegt, macht sich die Partygemeinde über das Gastgeschenk vom Flughafen her: eine Tafel Schokolade. Dani Wahlers spielt mit Sterns Freundin an der Dreamcast-Konsole. Von einer der Boxen schaut ein Pokémon-Monster auf sie hinunter. In der Diele steht ein alter Commodore-Computer, an der Wand hängen alte Hanf-Wahlplakate der Grünen: "Wir versprechen blühende Landschaften".

Hier entsteht ein Gefühl, das sehr dem der Party-Family im Club gleicht. Dort schaffen DJ und Tanzende zusammen Musik, Stimmung, den Abend. Versunken steht Cynthia Stern am Pult, während das Wohnzimmer trinkt, spielt und im Netz chattet. Der DJ bekommt Feedback. Aber nicht durch Druck von der Tanzfläche, sondern durch ein Nicken, ein Lächeln, einen zur Musik schwingenden Körper. Eine sehr intime und zugleich dezente Atmosphäre. Ein Spiel aus Nähe und Distanz.

"Die Leute können hier spielen was sie wollen", sagt Wahler. Und wenn es ein halber Abend Disco-Musik aus den Siebzigerjahren ist. Nicht zufällig kommt der 32-Jährige aus der Undergroundszene und organisierte früher Partys außerhalb des Clubsystems. Romantiker können roemerstr31.com als die Rache einer zu Pop gewordenen Subkultur sehen.

Zwischen einer Erniepuppe und dem Plattenspieler stehen zwei Rechner mit Standleitung ins Internet. Sonntags sind Menschen in Brasilien, Jugoslawien oder den USA übers Netz live dabei. Allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda kommen sie jetzt auf knapp 400 Besuche am Tag. Am Sonntag sind es bis zu 1 000.

Als Reaktion gegen die übertriebene Sichtbarkeit des DJs als Popstar gibt es bei roemerstr31.com kaum etwas zu sehen, sondern vor allem zu hören. Wer da auflegt, bleibt weitgehend unsichtbar, allein die Musik geht mit 32 oder gar 128 Kilobits in der Sekunde ins Netz, einen Live-Videostream mit Bildern gibt es nicht.

Die Musik legt man sich dann vom Rechner auf die heimischen Boxen und fängt an zu tanzen. Die Leute vor den Rechnern sind allein mit der Musik.

So ist es auch im Club: Auch wenn der DJ am Pult thront, bleibt er in der Dunkelheit des Raums unsichtbar. Niemand schaut gebannt zu seinem Plattenteller hinauf. Der DJ ist Schnittstelle zwischen den Reaktionen der Masse und einem Haufen Musik. Er mischt beides zu etwas Neuem zusammen.

Das Internet ist natürlich kein Clubersatz. Nur manchmal gelingt das Spiel mit Distanz und Nähe. Im Chat kommentieren Zuhörer die Musik. Einer will wissen, ob Cynthia nun "He or She" sei. Claus geht kurz zum DJ-Pult herüber und tippt dann die Antwort "sHe". In Momenten wie diesen, oder wenn immer jemand in Brasilien anfängt, zu Wahlers Wohnzimmer-Stream zu tanzen, hat es das Netz geschafft, ein bedrohtes Kunstkonzept neu zu übersetzen.

Warum sollen romantische Dinge wie Subkultur auch nicht im Internet funktionieren? Die Wahlers haben das schon vor roemerstr31.com bewiesen: Dani kommt aus Brasilien, Claus aus München. Seit zwei Jahren sind sie verheiratet, kennen gelernt haben sie sich im Netz. Eigentlich wollten sie da Party-Flyer tauschen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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