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Die Welt wird ein Computer (SPIEGEL online, 23.11.2000)

Konrad Lischka
Konrad Lischka
4 minuten gelesen

Die Welt wird ein Computer

Immer mehr Start-ups erklären verteiltes Rechnen zum nächsten Zauberwort fürs große Internetgeschäft. Sogar Intel ist der Meinung – schließlich will man Computer verkaufen.

SPIEGEL online, 23.11.2000

Es gibt Geschäftsideen, die klingen eigentlich zu schön, um wahr zu sein. So wie diese: Tausende von Menschen legen sich ins Bett und bekommen Geld fürs Schlafen – weil sie ihren Computer anlassen. Und das Unternehmen, das sie bezahlt, macht damit auch noch Gewinn. Das Zauberwort: Verteiltes Rechnen.

Bisher hatten Unternehmen bei Computersimulationen neuer Medikamente oder der Berechnung von Animationen wie für "Toy Story" ein Problem: Rechenkraft. Der momentan schnellste Rechner der Welt, IBMs ASCI White, hat die Kapazität von etwa 30.000 durchschnittlichen Heim-PCs. Das ist zwar nicht wenig – ein ASCI White ist für die meisten Unternehmen aber auch unbezahlbar. Und wer kauft ein solches Monstrum für einen "Job" von zwei oder drei Monaten?

Die Lösung: Allein in den USA hängen 100 Millionen Computer am Netz. Würde alle ihre ungenutzte Prozessorzeit etwa in die Aids-Forschung investiert, wäre die Welt das Problem zwar nicht unbedingt los, käme einer Lösung aber zumindest näher.

Programme, die so etwas ermöglichen, gibt es bereits. Eine Software wird aus dem Internet geladen, schaltet sich entweder in Form eines Bildschirmschoners ein, wenn der Rechner nicht genutzt wird, oder läuft parallel im Hintergrund und greift ungenutzte Prozessorzeit ab. Zu berechnende Daten und die Ergebnisse werden verschlüsselt übers Internet zwischen PC und dem Server des Unternehmens versandt.

Verteiltes Rechnen wird immer mehr zu einem Zauberwort für das ultimative Internetgeschäft – wie unlängst B2B oder Ähnliches. Das erste erfolgreiche Projekt verteilten Rechnens war SETI@home. Hier analysierten übers Internet vernetzte Rechner Radiowellen aus dem Weltraum nach Zeichen außerirdischen Lebens. Für die vage Hoffnung, einst im Schaukelstuhl den Enkeln erzählen zu können, wie man mithalf, außerirdische Intelligenz zu entdecken, schenken Millionen Menschen übers Internet etwas Rechenzeit dem Projekt SETI@home. In der Tat haben es in den ersten 15 Monaten des SETI@home Projekts etwa zwei Millionen Rechner auf 345.000 Rechenjahre gebracht.

Nun fließt reichlich Risikokapital, unlängst etwa 13 Millionen Dollar, in das Unternehmen United Devices des Seti@Home Gründers David Anderson. Ein anderes Start-up, Distributed Science, hat jetzt den ersten zahlenden Kunden gewonnen. Ende des Monats wird der Name verkündet. Die auf drei Jahre ausgelegte Zusammenarbeit sieht vor, mit den 140.000 weltweit verstreuten Rechnern der Mitarbeiter von Distributed Science Verfügbarkeit und Geschwindigkeit lokaler E-Commerce-Seiten zu testen.

Der Kunde zahlt einen "vierstelligen DM-Betrag pro idealer Maschine, der niedriger ist als die Kosten, eine eigene Maschine ohne Betreuung dafür abzustellen", wie Pressesprecher Armin Lenz erklärt. Und was erhält der Nutzer für seine Rechnerzeit als Gegenleistung?

Bargeld noch nicht. Parabon, United Devices und Distributed Science verlosen zunächst wöchentliche und monatliche Gewinne. Parabons Geschäftsführer Steven Armentrout sieht als Zahlungsmodell der Zukunft etwas wie die gute alte Akkordarbeit: "Wir zahlen für geleistete Arbeit. Eine schnelle Maschine mit breitbandigem Internetanschluss wird mehr Arbeit schaffen. Sie könnte 500 Dollar im Jahr bringen, während ein langsamerer Rechner nur einen Bruchteil davon erzielt."

Das US-Computermagazin "Red Herring" hat verteiltes Rechnen zum wichtigsten Trend des nächsten Jahres erklärt. Neben Distributed Science hat auch das Unternehmen Applied MetaComputing erste zahlende Kunden. Allerdings ermöglicht dessen Software LEGION verteiltes Rechnen in firmeninternen Netzwerken. Nutzer sind die Nasa, zahlreiche Universitäten, Abteilungen des Verteidigungsministeriums und einige der 500 größten Privatunternehmen der USA.

Nicht verwunderlich, denn hier wird einer der größten Nachteile verteilten Rechnens vermieden: Unsicherheit vertraulicher Daten. Bei den Konkurrenten werden Daten zur Simulation über das Internet an wildfremde Menschen verschickt und wertvolle Ergebnisse zurückgesendet. Der Gründer von 3Com, Bob Mecalfe, glaubt deswegen nicht an die Kommerzialisierbarkeit verteilten Rechnens: "Leute mit wirklich ernsten Aufgaben werden Ergebnissen von unzuverlässigen Maschinen, die bei absolut Fremden stehen, nicht vertrauen."

Ein anderes Problem ist die beschränkte Bandbreite des Internets. Für einige Rechen- und Simulationsaufgaben müssten nicht realisierbare Datenmengen auf die einzelnen Computer übertragen werden. So hat sich das US-Energieunternehmen Conoco gegen verteiltes Rechnen im Internet bei der Errechnung einer dreidimensionalen Karte des Erdinneren entschieden. Stattdessen werkelt man nun am eigenen Superrechner.

Andererseits hat der Hype gute Gründe. Intel setzt die Desktops am firmeninternen Netzwerk seit 1995 fürs verteilte Rechnen ein. 500 Millionen Dollar sollen so eingespart worden sein, weil für die Simulation und das Testen neuer Prozessordesigns keine teure Großrechner angeschafft werden mussten.

Nicht nur deswegen ist Intel begeistert von verteiltem Rechnen und Peer-to-Peer Architekturen, die Datenverkehr und Rechenarbeit nicht über einen zentralen Server erledigen, sondern unter gleichgestellten kleinen Desktoprechnern aufteilen. Auf der diesjährigen Intel Developer's Conference überschlugen sich Intel-Bosse vor Begeisterung für das neue Konzept. Allgemeiner Konsens: Peer-to-Peer ist Grundlage für die dritte Generation des Internets.

Intel hat mit 19 Gründungsmitgliedern – darunter IBM und Hewlett-Packard – eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich über Standards verständigen soll.

Dahinter stehen handfeste Interessen. Es wird für Intel immer schwerer werden, Leuten klarzumachen, wofür sie alle zwei Jahre schnellere Prozessoren brauchen. Bei der diesjährigen Intel Developer's Conference meinte bei einer Podiumsdiskussion SETI@Home Gründer David Anderson, verteiltes Rechnen werde mehr Rechenkraft von heimischen Desktops verlangen. Intels Technikchef Pat Gelsinger saß bis dahin still im Publikum und rief auf einmal nur "Ja!".

Bevor man aber nun von einer Zukunft träumt, in der jeder Rechner Zugriff auf jede freigegebene Datei auf jedem Heimcomputer in der weiten Welt hat, in der jeder Mensch selbst entscheidet, wie viel Informationen er über sich und seine Finanzen vom heimischen Rechner aus freigibt, in der die heutige neutrale Einstellung Intels zu Napster Allgemeingut wird, sollte man eins bedenken: Viele extrem erfolgreiche und große Internetunternehmen wie AOL/Warner, Ebay und alle Suchdienste verdanken ihre Existenz der zentralen Sammlung von Information. Es ist fraglich, ob sie sich die durch eine von Intel propagierte neue Peer-to-Peer Netzarchitektur ansprechen lassen.

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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